Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
Vom Netzwerk:
Parlament das afghanische Volk repräsentiere, antwortet der Geistliche, daß bei der Wahl zwar nicht alles korrekt gelaufen sei, das Ergebnis aber grundsätzlich dem Votum des Volkes entspreche.
    – Wir wehren uns gegen die pauschale Kritik am Parlament, wendet sich der Geistliche gegen die Vorwürfe der Taliban: Von der Zerstörung des Parlaments profitieren nur die Feinde Afghanistans, innerhalb und außerhalb des Landes.
    Was der Geistliche sagt, klingt vernünftig. Nur habe ich keinen Hinweis herausgehört, wo er politisch steht, ob im nationalen oder religiösen Lager, ob in der Opposition oder der Regierung. Kein Wunder, sagt der Schriftsteller Massoud Hassanzadeh nach dem Interview, die Fraktionen verkündeten alle dasselbe. Alle seien jetzt für Reformen, die Technokraten, die die Regierung bilden, die «Demokraten», als die sich die ehemaligen Kommunisten zusammenfinden, und die alten Islamisten, die sich als erste den Namen Reformer gesichert haben. Gestern habe er einen Altkommunisten interviewt, berichtet Massoud, dessen Aussagen identisch waren mit denen des Islamisten, absolut identisch – für Rechtsstaatlichkeit, gegen Korruption, für Demokratie, gegen Vetternwirtschaft. Aber mit dem Geistlichen würde der Altkommunist sich niemals zusammentun – nicht weil er andere Ansichten habe, sondern weil er einem anderen Lager angehöre. Inhalte interessierten niemanden.
    Ich frage Massoud, ob die Schwierigkeiten im Parlament, die er beobachte, nach beinahe drei Jahrzehnten des Kriegs nicht natürlich seien. Immerhin gebe es jetzt ein Parlament, das Schwierigkeiten bereite. Der Schriftsteller gibt mir prinzipiell recht, kommt indes auf den wachsenden Einfluß der Islamisten zu sprechen und die Hilflosigkeit der nationalen Regierung gegenüber Provinzfürstenund westlichen Generälen. Außerdem stünden in jedem anderen Land Kriegsverbrecher vor Gericht, in Afghanistan aber säßen sie im Parlament und erwiderten auf Fragen nach den tausendfachen Morden, die ihnen zur Last gelegt werden, daß im Krieg niemand Süßigkeiten verteile.
    – Aber ist es nicht ein Fortschritt, wenn sie sich nun Demokratie wenigstens auf die Fahnen geschrieben haben? frage ich nochmals: Das sagt doch auch etwas über die Wirklichkeit Afghanistans aus, wenn alle plötzlich von Frieden und Menschenrechten sprechen, um Wahlen zu gewinnen. Vielleicht verändern die Parolen langfristig auch die Politik.
    – Das mag sein, aber sehr langfristig, meint Massoud Hassanzadeh.
    – Gibt es eine Alternative?
    – Nein. Es gibt keine Wahl. Entweder diese korrupte Regierung überlebt dank der Unterstützung des Westens, oder wir haben Taliban und Krieg.
Wo ist der Fortschritt?
    Nicht die Präsenz des Westens als solche ist in Afghanistan das Problem, eher schon die mangelnde Bereitschaft, so präsent zu sein, wie es für den Wiederaufbau eines Landes von der Größe Afghanistans notwendig wäre. James Dobbins, der ehemalige Sonderbotschafter von Präsident George W. Bush für Afghanistan, hat das bittere Resümee gezogen, daß Afghanistan der «finanziell und personell am schlechtesten ausgestattete Versuch des Nationbuilding in unserer Geschichte» sei. Bezogen auf die Bevölkerungszahl habe das Weiße Haus ein Fünftel der Truppen und ein Fünfundzwanzigstes des Geldes bereitgestellt, das für den Einsatz in Bosnien zur Verfügung stand. Ein großer Teil des zugesagten Geldes sei nie ausgezahlt worden. «Die Hauptlektion von Afghanistan ist:
low input, low outcome
, wenig investiert, wenig erreicht.» Aber es steht nicht nur zu wenig Geld zur Verfügung, um ein Land wieAfghanistan wieder regierbar zu machen. Die Ziele, die die Interventionsmächte in Afghanistan verfolgen, sind so widersprüchlich, daß sie sich auch fünf Jahre nach Petersberg nicht zu einer Strategie fügen und sich die unterschiedlichen Akteure oft gegenseitig lähmen. Vor allem aber widerspricht die Verteilung des Geldes allen Konzepten, die ich zur Vorbereitung gelesen habe, und allen Einsichten, die mir während meiner Reise mit der NATO vorgetragen werden: Den fünfundachtzig Milliarden Dollar, welche die internationale Gemeinschaft für den militärischen Einsatz in Afghanistan ausgibt, stehen ganze sieben Milliarden für den zivilen Aufbau gegenüber.
    Dennoch gibt es Fortschritte. Selbst der Schriftsteller Massoud Hassanzadeh würde der Feststellung nicht widersprechen, daß das Parlament ein Fortschritt ist, bei all seinen Unzulänglichkeiten. Gut ein Viertel

Weitere Kostenlose Bücher