Ausnahmezustand
geht Ihnen durch den Kopf, wenn sich die Entscheidung als falsch herausstellt?
–Ich weiß auch nicht, wie man das rechtfertigen soll, antwortet der Sergeant.
Aber nach einer kurzen Zeit des Schweigens führt First Sergeant Weber auch die Luftangriffe wieder auf eine Situation der Selbstverteidigung zurück. Man sei eben angegriffen worden.
– Als Soldat weiß ich, daß es Situationen geben kann, in denen meine Kompanie auch mich im Stich lassen könnte, wenn meine Rettung zu gefährlich wäre. Es gibt Situationen, in denen man einige Menschen opfern muß, um viele zu retten.
In Kabul
Per Handschlag verabschiede ich mich von den beiden Presseoffizieren, die zum Tor des Militärlagers mitgekommen sind. Sie machen sich Sorgen, weil sie für meine Sicherheit verantwortlich sind, und sind zugleich neugierig, was ich nach der Rückkehr ins Raumschiff des Hauptquartiers erzählen werde, das sie wie alle Angehörigen der
International Security Assistance Force
nur im Militärkonvoi verlassen dürfen. Aus Sorge, für einen Angestellten der NATO gehalten zu werden, entferne ich mich zweihundert Meter, bevor ich ein Taxi nehme. Ich will den Kopf frei kriegen von den persönlichen Geschichten der Soldaten. Ich glaube ihnen, daß sie es gut meinen. Aber ich will verstehen, warum es nicht gut läuft.
Der erste Eindruck ist von trostloser Normalität: Verkehrsstau, Trümmer, einfachste Betonverhaue statt Häuser, Armut. Keine Bäume, keine Cafés, kein Lachen. Die einzigen, die in Kabul verweilen, sind Krüppel und die offenbar unvermeidlichen Kinder, die sich Klebstoff vor die Nase halten. Aber auch viele Frauen sind auf den Straßen zu sehen, ohne Burkas, Schulkinder, Mädchen und Jungen. Doch, die Schulkinder, sie lachen. Man muß den Blick auf die Schulkinder heften, um nicht in Depressionen zu verfallen. Wer hingegen in alten Reiseberichten gelesen hat, wie Kabul vor fünfhundert, vor fünfzig und noch vor fünfundzwanzig Jahren aussah,wird seines Tages nicht mehr froh. Kabul war einmal ein Garten. Hier gediehen Trauben, Granatäpfel, Aprikosen, Äpfel, Quitten, Birnen, Pfirsiche, Pflaumen und Mandeln, wie Kaiser Babur 1501 in seinen Memoiren vermerkte. Die ganze Pracht Indiens, das er eroberte, wog die dreiunddreißig Sorten wilder Tulpen nicht auf, die in Kabul blühten. Nüsse gab es im Überfluß, und der Wein war berauschend. Noch Bouvier fand 1954 ein Kabul vor, das «dem von Babur gezeichneten Bild einer wunderbaren Stadt» nahekam. Und der Polyglott-Führer von 1974 verspricht dem Reisenden «einzigartige Eindrücke, die kein anderes Land in dieser Vielfalt vermitteln kann». Gut ausgebaute Straßen und ein dichtes Binnenflugnetz erleichterten das Reisen. Die neue Zeit dokumentierte sich in modernen Marmor- und Zementbauten sowie in Glasfassaden. Bedauerlich sei nur, klagt der Polyglott, daß Kabul ein Dorado für Drogensüchtige geworden sei, die dem Ansehen der Europäer erheblich geschadet hätten.
Hippies stellen in Afghanistan heute kein Problem mehr dar. Im Gegenteil: Heute exportiert Afghanistan seine Probleme. Fünf Jahre nach dem Sturz der Taliban vermeldeten Fachleute der Vereinten Nationen, daß nie zuvor auch nur annähernd so viel Mohn angebaut worden sei wie unter den Augen des Nordatlantikpakts, 92 Prozent des Opiums auf der Welt. Das Wirtschaftswachstum, das Afghanistan aufweist, verdankt es nur zum kleineren Teil dem Wiederaufbau; zum größten Teil sind die neuen Villen, Bürogebäude und Einkaufszentren, die es in Kabul auch zu sehen gibt, aus Drogengeschäften finanziert. Und der Milizenführer, der in Afghanistan für die Drogenbekämpfung verantwortlich ist, gilt selbst als einer der größten Drogenbarone des Landes.
Ich begleite den jungen Schriftsteller Massoud Hassanzadeh ins Parlament. Im Brotberuf Journalist für
Voice of America
, ist er mit einem Abgeordneten aus der sogenannten «Reformfraktion» zum Interview verabredet, dem schiitischen Geistlichen Ahmad Ali Dschebraíli. Der Geistliche verlangt Rechtsstaatlichkeit und den Schutz von Minderheiten. Die Verfassung müsse dafür nicht geändert, sondern nur angewandt werden.
–In diesem Augenblick, da ich zu Ihnen spreche, sagt der Geistliche dem Schriftsteller und blickt ihm betroffen in die Augen, werden achtzig Prozent aller Angelegenheiten in diesem Staat nach Maßgabe von Beziehungen, nicht von Gesetzen geregelt.
Afghanistan sei ein islamischer Staat, aber die Theokratie in Iran nicht dessen Modell. Auf die Frage, ob das
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