Ausnahmezustand
Ministerpräsidenten wählten. Karzai gewann die Wahl, und die staatliche Hilfsorganisation USAID bewilligte 15 Millionen Dollar für den Bau der Autobahn. Das Geld wurde an ein Büro der Vereinten Nationen überwiesen, die den amerikanischen Berger-Konzern als Berater engagierten. Der Auftrag selbst ging an die türkische Firma Limak, die wiederum die afghanisch-amerikanische FirmaARC Construction Co. als Subunternehmer engagierte. Jede dieser Firmen strich eine üppige Provision ein. Allein vier Millionen Dollar kostete nach Auskunft des Berger-Konzerns die Unterkunft der ausländischen Angestellten und die Einfuhr der technischen Geräte. Für den Bau selbst blieb dann nicht mehr viel Geld übrig. Dabei fielen die Löhne für die afghanischen Bauarbeiter kaum ins Gewicht, bei neunzig Dollar monatlich für zehn reguläre Arbeitsstunden am Tag, siebenmal die Woche und ohne Urlaub. Auch für Krankenversicherungen und sonstige Versorgungsleistungen entstanden keine Kosten, und als der Arbeiter Mohammad Nassim sich bei einem Unfall auf der Baustelle tödlich verletzte, blieb es seinen Kollegen überlassen, für die Familie, die ihren Ernährer verloren hatte, etwas Geld und Nahrungsmittel zu sammeln.
Aber das hätte in Afghanistan kaum jemanden erregt. Verblüfft waren die Bewohner, als sie erstmals die neue Autobahn befuhren. Bereits bei ihrer feierlichen Eröffnung hatte der Straßenbelag so viele Löcher und Risse, daß er mehr aus Schotter als aus Asphalt bestand. Überall sieht man Autos, die mit einer Reifenpanne oder einer zerbrochenen Windschutzscheibe den Verkehr blockieren. Weil aus Geldmangel zwei Meter eingespart werden mußten, fehlt der Autobahn der Standstreifen. Auch an Nothaltebuchten hat keiner der ausländischen Konstrukteure gedacht. Die vielen Fahrradfahrer, die vorher auf dem Seitenstreifen gefahren sind, müssen nun entweder zu Hause bleiben oder sich zwischen die Autos zwängen. Tröstlich ist für sie, daß die Autos auf der Autobahn kaum schneller fahren als auf der alten Staubpiste. Bei Beschwerden verweist die Provinzregierung die Verkehrsteilnehmer nach Washington. Sie selbst hatte keinerlei Mitsprache bei dem Bau und fühlt sich nicht verantwortlich für dessen Instandsetzung.
Aber Achtung, es wird noch absurder: Einige Zeit nach der «Fertigstellung» gruben Anwohner einen Graben mitten durch die Straße. Rechtzeitig vor der Regenzeit versuchten sie so, einen Abflußkanal zu schaffen. Wegen Beschädigung öffentlichen Eigentums wurden sie verhaftet. Der Dorfälteste verteidigte die Festgenommenen.Die Dorfbewohner hätten sich über die neue Straße gefreut, sagt er, aber nicht darüber, daß ihre Häuser im Winter überflutet würden. Er verlangte den Bau eines Abflußrohrs. Die Baufirma verwies auf einen obskuren und kaum je angewendeten Paragraphen im afghanischen Verkehrsgesetz, wonach kein Gebäude näher als dreißig Meter an einer Autobahn stehen dürfe. Aber die Häuser waren doch vor der Straße schon da, wandten die Dörfler ein. Als sie merkten, daß Logik nicht hilft, gruben sie zwei Monate später einen neuen Graben mitten durch die Straße.
Die amerikanische Organisation CorpWatch, die den Bau der Shibergan-Autobahn dokumentiert hat, verweist darauf, daß der Wiederaufbau Afghanistans weit größere Skandale produziert hat. Straßen wie die Schibergan- oder die Kandahar-Autobahn können immerhin befahren werden. Anderswo hat die Schlamperei Menschenleben gekostet. «Aber die Schibergan-Autobahn ist ein Lehrstück für die Fallstricke bei der Privatisierung des Wiederaufbaus: verschwendetes Geld, gebrochene Versprechen, das Fehlen jedweder staatlicher Aufsicht, lokal oder zentral, sowie grundlegende kulturelle und wirtschaftliche Mißverständnisse, die bei der Bevölkerung Ressentiments erzeugen, statt deren Herzen und Köpfe zu gewinnen.»
1978, vor der sowjetischen Invasion, war Afghanistan arm, konnte jedoch seine Bevölkerung selbst ernähren. Achtzig Prozent seiner Exporte und die Hälfte seines Bruttosozialprodukts stammten aus der Landwirtschaft. Heute ist das Land abhängig vom Wohlwollen der internationalen Staatengemeinschaft. Nach Angaben von Wirtschaftsminister Mohammad Amin Farhang stammen neunundneunzig Prozent aller Waren auf dem afghanischen Markt aus dem Ausland. Die Weltbank, der Internationale Währungsfonds, das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen und die amerikanische Regierung haben mit ihren Beratern mehr Kontrolle über die afghanische
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