Ausnahmezustand
konnte, schlug er mit der Peitsche den Meister aufs Knie, daß dieser in sich zusammensackte.
– Danach verfiel ich in eine Depression, sagt Meister Tamim. Es war nicht der körperliche Schmerz. Es war diese Demütigung.
Meister Tamim verkündete seiner Familie, daß er Afghanistan verlassen werde. Ein Künstler könne in Afghanistan nicht mehr leben. Ein paar Pinsel nahm er mit, eingewickelt in Decken. Angekommen im pakistanischen Peschawar, mietete er ein Zimmer. Ein Freund half ihm. Meister Tamim fing wieder an zu malen. Nach einigen Monaten hatte er genug Bilder verkauft, um die Familie nachzuholen, die Eltern. In Peschawar fand er auch ein Institut, in dem er andere afghanische Miniaturmaler unterrichten konnte. Als Kabul von den Taliban befreit war, kehrte Meister Tamim zurück. Er lehrt jetzt an einer Schule für traditionelle afghanische Malerei, die von einer englischen Stiftung unterstützt wird. «The TurquoiseMountain Foundation» heißt sie und wurde gegründet von dem jungen Ex-Diplomaten Rory Stewart, der vor einigen Jahren zu Fuß von der Türkei bis nach Nepal gewandert ist und darüber ein wundersames, viel gerühmtes Buch geschrieben hat, «The Places in Between».
– Ich persönlich habe jetzt Freiheit. Mir sagt niemand mehr, was ich zu malen habe und was nicht.
Ich frage mich, wie alt Meister Tamim ist. Seinen Erfahrungen und seiner Meisterschaft nach könnte er siebzig sein. Vom Aussehen halte ich ihn eher für vierzig, fünfundvierzig.
– Ich bin achtundzwanzig, lacht Meister Tamim: Es passiert mir immer noch, daß jemand ins Institut kommt und mich fragt, wo der Meister sei.
Auch Massoud Hassanzadeh, der junge Journalist und Schriftsteller, meint, daß die Afghanen zufrieden seien, wo sie wenigstens eine Ahnung von Fortschritt hätten. In Herat zum Beispiel, seiner Heimatstadt im Westen Afghanistans, sei die Lage besser als in Kabul; dort gebe es so etwas wie ein reguläres Leben und soziale Strukturen, die noch einigermaßen intakt seien. Aber Herat sei immer schon anders gewesen und habe dank des dortigen Gouverneurs Ismail Khan den Krieg halbwegs unbeschadet überstanden. Die meisten Afghanen seien den ausländischen Soldaten gegenüber nicht feindlich eingestellt und forderten nicht deren Abzug. Sie seien nur verzweifelt, schlicht und ergreifend verzweifelt. In Kandahar oder Helmand allerdings, im Süden, von wo fast alle Meldungen über Anschläge und Gefechte stammen, sei die Stimmung tatsächlich umgeschlagen. Angesichts eines Heers von Arbeitslosen – die Quote beträgt nach Schätzungen westlicher Forscher in manchen Städten bis zu neunzig Prozent – sei es nicht schwierig, einen jungen Mann dafür zu gewinnen, sich den Taliban anzuschließen. Dort habe er wenigstens Nahrung, Kleidung, Unterkunft und vielleicht noch ein paar Afghanis für seine Familie übrig. Ja, es gebe Entwicklung, kommt Massoud auf meine Ausgangsfrage zurück. Aber im Verhältnis zu der Summe, die in das Land gesteckt wurde, sei die Bilanz eine Katastrophe.
–Man darf gar nicht daran denken, sonst wird einem schwarz vor Augen.
«Here in this extraordinary piece of desert is where the fate of world security in the early 21st century is going to be decided», sagte der britische Premierminister Tony Blair gerade diese Woche beim Truppenbesuch. Auch um die Weltsicherheit muß man sich also ernstlich sorgen.
Die neue Autobahn
Warum Afghanistan nicht oder nur so quälend langsam vorankommt, zeigt sich besonders anschaulich dort, wo es am schnellsten gehen müßte, nämlich auf der nagelneuen Autobahn von Sar-e Paul nach Schibergan im Norden des Landes. Im Wahlkampf hatte Hamid Karzai der Bevölkerung der nördlichen Provinzen den Bau einer zehn Meter breiten Schnellstraße versprochen. Begleitet wurde er vom damaligen amerikanischen Botschafter Zalmay Khalilzad, den viele Beobachter dafür verantwortlich machen, daß die Stämme des Südens aus dem Friedensprozeß ausgeschert sind. Am 10. Juni 2002 hatte er den Rückzug des einstigen Königs Zahir hinter den verschlossenen Türen der Loya Dschirga durchgesetzt und der Einfachheit halber gleich selbst der Öffentlichkeit verkündet. Zahir Schah genoß als einziger afghanischer Politiker das Vertrauen aller afghanischen Volksgruppen, also auch des paschtunischen Südens, hatte allerdings die amerikanischen Luftangriffe scharf kritisiert.
Khalilzad sagte die Finanzierung der Autobahn durch seine Regierung für den Fall zu, daß die Afghanen Karzai zum
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