Ausnahmezustand
aller Afghanen haben nach Angaben der Vereinigten Staaten Zugang zu «qualifizierter medizinischer Versorgung». Hunderttausend Lehrer seien in den vergangenen fünf Jahren ausgebildet, vierzig Millionen Schulbücher gedruckt worden. Statt neunhunderttausend Kindern wie im Jahr 2001 würden nun, fünf Jahre später, fünf Millionen Kinder zur Schule gehen. Zwar sind die Angaben kaum zu überprüfen und mal niedriger (Schüler), mal deutlich höher (Lehrer) als die Zahlen, die die ISAF nennt, doch gibt es andere Beobachtungen, die keine Statistik brauchen. Zumindest in den großen Städten können sich die Frauen wieder ohne Burkas bewegen. Viele Afghanen freuen sich über die neuen Fernsehstationen, die neben einheimischen Unterhaltungsprogrammen auch offene Diskussionen und kritische Reportagen senden. Für die künftige Unabhängigkeit des Landes besonders wichtig ist der Aufbau der nationalen Armee. Den meisten Berichten, Gesprächen und dem eigenen Augenschein nach ist das bisher Erreichte durchaus vorzeigbar. Plausibel erscheint, daß der NATO in Afghanistan am ehesten noch das gelingt, was sie selbst am besten beherrscht. 35.000 afghanische Soldaten sind bereits im Einsatz und genießen ein höheres Ansehen als die Polizei. Beinahe alle Ausbilder sind inzwischen Afghanen. Ausländische Offiziere stehen auf dem Truppenübungsgelände nahe Kabul meist nur noch als Tutoren an derSeite. 2008 soll die afghanische Armee die angestrebte Größe von siebzigtausend Soldaten erreicht haben. Nachdem kürzlich der Sold erhöht wurde und die Soldaten besser verdienen als mancher Arzt, scheint die Motivation der Truppe tatsächlich relativ gut zu sein. Jedenfalls höre ich auch dann keine schwerwiegenden Klagen, als ich allein durch das Camp streife, um mich auf Persisch unter den Soldaten umzuhören. Der eine ist Tadschike, der andere Paschtune, der dritte Usbeke und der vierte ein Hasara-Schiit. Die Armee ist die einzige nationale Institution, die von ethnischen Spannungen weitgehend frei zu sein scheint. Einige der Offiziere haben früher für die Kommunisten gekämpft, die anderen für die Mudschahedin, wieder andere waren Taliban. Manche waren auch erst das eine, dann das andere oder sogar alles drei. Die Atmosphäre in den Ausbildungspausen ist gelöst; anders als in der Stadt wird viel gelacht.
Schießen bräuchte man den Afghanen nicht beizubringen, erklärt ein kanadischer Ausbilder, Officer Feick. Auch taktisches Denken, Intelligenz, Auffassungsgabe bereiteten keine Schwierigkeiten, dann schon eher Topographie, das Studium von Landkarten – kein Wunder, wenn achtzig Prozent der jungen Rekruten Analphabeten seien. Vor allem aber hätten die Afghanen eine andere Auffassung von Disziplin und Zeit. Sich kurz zu fassen, sei nicht gerade ihre Stärke.
– Wenn du einem Afghanen etwas befiehlst, fragt er grundsätzlich erst einmal, warum. Das ist sympathisch, aber im Militär nicht besonders hilfreich.
– Werden die jungen Männer, die Sie hier trainieren, einmal kämpfen können?
– Ja, ich glaube schon. Und wissen Sie warum? Weil sie freiwillig hier sind. Weil sie von überall zu hören bekommen, zu Hause, auf der Straße, im Fernsehen, daß das Land Frieden braucht, und der Frieden eine nationale Armee.
Nun ist der Erfolg einer Armeeausbildung für einen Laien wie mich kaum zu ermessen. Daß ich sympathische Ausbilder und gutgelaunte Rekruten treffe, ist schön, aber kein Beleg. Auch die Gefechtsübungmit Echtpatronen auf der Gebirgsebene One Charly North/One Delta North sagt mir schon aus Unkenntnis militärischer Abläufe so wenig wie die Ortsbezeichnung selbst. Also suche ich den Fortschritt dort, wo ich ihn besser beurteilen kann: in der traditionellen afghanischen Kunst.
Meister Tamim
Meister Tamim hat mit sieben Jahren begonnen, als Miniaturmaler zu arbeiten. Mit sechzehn wurde er bereits
Ostad
, also Meister. Als der Krieg begann, konnte er mit seinen Zeichnungen die ganze Familie ernähren. Dann übernahmen die Taliban die Macht, und Meister Tamim mußte seine Bilder verstecken. Einmal hielt ihn ein Talib auf der Straße an, ein kaum sechzehn- oder achtzehnjähriger Bursche mit Milchbart, der nur Paschto sprach, die Sprache der Paschtunen. Was er da bei sich habe, fauchte der Talib und zeigte mit der Peitsche auf die Rolle, die der Meister in der Hand hielt. Eingerollt zwischen Zeitungspapieren, Dokumenten und unverfänglichen Kalligraphien fand der Talib die Darstellung eines Menschen. So fest er
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