Ausnahmezustand
Straßenkreuzungen sind Freiwilligenmilizen postiert, im Norden selbst Männer mit weißen Bärten, schmächtige Jungen, nicht älter als fünfzehn. Die Rufe, daß Gott größer sei, sind an diesem Abend lauter und dauern länger.
Sonntag
Allein in meinem eigenen Bekanntenkreis, der in Teheran nicht besonders groß ist, sind acht Demonstranten gestern abend nicht nach Hause zurückgekehrt. Weder weiß die Polizei etwas über sie, noch waren sie bisher in einem der Krankenhäuser zu finden. Die staatliche Nachrichtenagentur spricht von dreizehn Toten, Gerüchte von ganz anderen Zahlen. In der Stadt scheint es ruhig zu sein, an allen größeren Plätzen Polizei, Antikrawallkommandos oder Freiwilligenmilizen. Es herrscht auch Verwirrung, wo überhaupt eine Demonstration stattfinden könnte, unterschiedliche Orte machen die Runde und werden widerrufen, sicher auch vom Geheimdienst gestreut, um Verwirrung zu stiften, das Mobilfunknetz den ganzen Tag abgeschaltet, das Internet funktioniert nicht, die Satellitensender nicht zu empfangen. Die Verhaftungswelle setzt sich fort, reicht immer tiefer in den Staatsapparat und schwappt immer höher in der Hierarchie. Mehrere Studentenführer und Journalisten, die ich diese Woche so hoffnungsvoll antraf, sind vom Geheimdienst abgeholt worden, Abdollah Nuri merkwürdigerweise noch nicht. Das Staatsfernsehen führt geständige Spione vor, nennt die Getöteten Terroristen und beschuldigt den Westen, den Aufstand geschürt und bezahlt zu haben. Einzelne Reformer melden sich wütend zu Wort, mit Großajatollah Montazeri auch der höchststehende Großajatollah aus Ghom; ein zweiter Großajatollah meldet resigniert, daß er sich melden würde, hätte es noch Sinn.
Nacht zum Montag
Im Flugzeug staune ich über den euphorischen Ton der internationalen Kommentare, die die Demonstranten hochleben lassen. Das mag nett gemeint sein, verkennt aber, daß die Opposition gegen diesen gewaltigen und gewaltbereiten Sicherheitsapparat keine Chance hat. Noch sind nicht einmal die Revolutionsgarden zum Einsatz gekommen. Wenn es gelänge – aber wie? –, die Proteste fortzusetzen, gar noch einmal Hunderttausende oder Millionen auf die Straße zu bringen wie vor der Predigt des Führers, könnte es in Teheran und Ghom auch hinter den Kulissen zu einer Revolte kommen. Wenn nicht, herrscht in Iran nicht mehr der Rechtsgelehrte, sondern herrschen Knüppel, Wasserwerfer und Sturmgewehre.
EINGANG ZUR HÖLLE
Syrien, September 2012
Mitte und Rand
In der Mitte der Stadt und den wohlhabenden Vierteln ist der Krieg nur zu hören, im Abstand einer ganzen oder halben Stunde, manchmal alle zehn Minuten, tagsüber seltener als nachts, eine einzelne Mörsergranate oder nicht aufhörende Salven. Die Menschen heben nicht einmal mehr den Kopf, gehen durch die neuen Shopping-Malls und den viel größeren Basar, stehen an den Ladentheken oder im Stau, sitzen in den Cafés und Restaurants, fahren mit der Arbeit fort oder ihrem Gespräch. Die Granaten werden vom Qassioun-Berg abgefeuert, zu dessen Füßen sich die Stadt bis weit in die Wüste erstreckt, ein beliebtes Ausflugsziel eigentlich, besonders im Sommer, weil die Luft dort oben ein, zwei Grad kühler und auch sauberer ist. Aber Ausflüge macht ohnehin niemand mehr in Damaskus. Freitags, wenn die Läden und Büros geschlossen, die Wege also nicht mehr notwendig sind, leeren sich die Straßen und Bürgersteige und wirkt die Stadt schon gar nachts wie verlassen. An den übrigen Tagen hingegen ist der erste Eindruck eine schon schwindelerregende Normalität. Längst hat man sich an die Checkpoints gewöhnt, die allerorten den Verkehr unterbrechen, längst auch an die Vertriebenen, die unter Brücken und in Parkanlagen campieren, weil sie keine Verwandten in der Mitte der Stadt und den wohlhabenden Vierteln haben. Fragt sich denn niemand, wo die Granaten einschlagen?
Doch, alle scheinen sich das zu fragen, jedenfalls alle, die ich darauf anspreche, und viele haben auch Antworten, ganz konkrete Beschreibungen des Krieges, weil sie an den Rändern und in den ärmeren Vierteln der Stadt wohnen, aber nun nicht mehr nach Feierabend in ihre Häuser zurückkehren können oder nur, um ihr Eigentum zu bergen, sofern es nicht geplündert worden ist. Das ist neben dem Schein von Normalität das zweite, was mich an der Stadt überrascht: Die Menschen sprechen, sprechen für oder gegenden Staat, sprechen über die Rebellen mit Angst oder mit Hoffnung – sie sprechen.
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