Ausnahmezustand
eine Tür öffnet. Zehn, zwölf anderen Demonstranten hinterher, hechte ich in den Hof eines zweistöckigen Hauses und finde mich in einem Hausflur wieder. Die Greisin im bunten Tschador, die aufgeregt zwischen uns umhergeht, dürfte die Hausherrin sein. Wir brauchen Feuer! ruft jemand aufgeregt. Ein anderer: Kein Wasser an die Augen, kein Wasser! Die Greisin bringt einen Stapel alter Zeitungen, die sie auf dem Steinboden ihres Flurs anzündet. Jeder steckt ein Blatt ins Feuer und hält es sich vor die Augen. Auf dem Boden sitzt ein Mädchen und weint hysterisch, jemand anderes hält den Kopf aus der angelehnten Tür und übergibt sich. Der Rauch hilft: Bis auf das Mädchen, das weiter weint, beruhigen sich alle; anschließend beruhigen alle das Mädchen. Jemand hilft der Greisin, die Asche wegzukehren, die anderen gehen auf den Hof, wo sich andere Demonstranten ausruhen, oder zurück auf die leere Straße – nur in welche Richtung? Sie sollen sich Richtung Freiheitsplatz halten, weiß jemand, also gehen sie nach rechts und ich hinterher, schon weil die Chance, den Knüppeln zu entgehen, in der Gruppe größer ist, da man in verschiedene Richtungen fliehen kann. In einer Querstraße reihen wir uns in einen größeren Zug von Demonstranten, der auf die Revolutionsstraße zusteuert.
Als ich zum zweiten Mal durch eine Tür fliehe, die sich unverhofft öffnet, meine ich bereits, genug gesehen zu haben: einen Zivilgekleideten, der im Vorübergehen einem Mann mit voller Wucht auf den Nacken schlägt, den Mann, der sich auf dem Boden krümmt und brüllt, seine Freunde, die ihn weinend wegziehen. Ein Auto, das an einer Kreuzung stehenbleibt, weil dort Steine fliegen; ein Milizionär brüllt den Fahrer an, weiterzufahren. Der Fahrer, erkennbar verwirrt, zeigt mit den Händen, daß er nicht weiß, in welche Richtung, schon zertrümmert der Knüppel die Scheibe des Fahrersitzes. Blutüberströmte Gesichter, Barrikaden aus brennenden Mülltonnen, ein Frau mittleren Alters, ob Anwohnerin oder Regimegegnerin, vollständig von Panik erfüllt, die kreischend, zitternd, heulend auf dem Bürgersteig steht, während vor und zurückalle Menschen an ihr vorbeisprinten. Immer wieder öffnen sich die Türen der Anwohner und die Gitter der Läden für Flüchtende, obwohl das Viertel keineswegs bürgerlich ist, ziemlich weit im Süden der Stadt. Es sind zu viele Demonstranten, die sich auf zu viele Straßen verteilen und immer wieder neu formieren, als daß die Sicherheitskräfte die Lage unter Kontrolle bringen können, zumal die Gegenwehr immer wütender wird. Die jungen Männer werfen Steine, wo sie welche finden, springen auf fahrende Motorräder und setzen sie in Brand, ebenso einen Omnibus der Freiwilligenmiliz. Viele der Polizisten wollen sich erkennbar heraushalten, kümmern sich hier und dort um verletzte Demonstranten, raten anderen, in welcher Richtung Flucht am ehesten möglich ist. Die Milizen sind oft überfordert und wissen nicht, wie sie auf eine Überzahl von Demonstranten reagieren sollen, während die Antikrawallkommandos den Protest am effizientesten ersticken. Brutaler sind nur die Zivilgekleideten, die sich gezielt auf einzelne Demonstranten stürzen.
Als ich mich wie viele Demonstranten oder auch wie die Passanten und Autofahrer, die zufällig zwischen die Fronten geraten sind, nur noch in Sicherheit bringen will, dauert es noch zwei Stunden, bis ich das Viertel endlich verlassen habe. Der Rückweg in den Norden dauert nochmals zwei Stunden, weil die Straßen an vielen Stellen blockiert sind. Die Arbeiter der U-Bahn, die neben der Stadtautobahn gebaut wird, stehen auf ihren mehrstöckigen Wohncontainern und machen das Siegeszeichen der grünen Bewegung, als im Hubschrauber die Staatsmacht über ihnen kreist, ebenso die meisten Autofahrer, die unten im Stau stecken. Auch weit entfernt vom eigentlichen Schauplatz der Demonstration kommt es zu Auseinandersetzungen. Als es jungen Leuten gelingt, eine Einheit der Freiwilligenmiliz mitten auf der Stadtautobahn in die Flucht zu schlagen, hupen die Autofahrer, manche steigen aus und tanzen, von den umliegenden Häuserdächern und der Fußgängerbrücke, auf die ich gestiegen bin, rufen die Menschen «Tod dem Diktator!» Dann fährt die Motorradstaffel eines Antikrawallkommandos heran. Die Demonstranten fliehen über die Leitplanke,einzelne finden Zuflucht in Autos. Ich höre jemanden rufen: Alle hupen!, schon setzt wieder das Hupkonzert ein. An sämtlichen
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