Ausnahmezustand
Wer Syrien kannte, wie es vor dem Aufstand war, der wird sich an die Unmöglichkeit erinnern, unter Fremden oder im öffentlichen Raum über Politik zu diskutieren. Jetzt passiert es mir in beinah jedem Taxi, daß der Fahrer von Freiheit und Demokratie redet, ja, manche wollen mich gar nicht mehr aussteigen lassen, wenn sie erfahren, daß ich im Ausland über Syrien berichte, fahren hier noch einen Bogen und dort eine Runde, um mir ihre Sicht der Lage zu erklären, ihre Not, ihre Wut, ihre Vorstellung, was aus dem Land werden soll.
Wo schlagen die Granaten ein? frage ich also gleich am ersten Tag einen jungen Schuster, der seine Familie bei Verwandten in der Altstadt untergebracht hat und sich sofort mit mir verabredet, um mich in seinen Stadtteil Midan mitzunehmen, wo die Reichen auch schon vor dem Krieg nicht hinfuhren. Im Minibus mahnt mich der Schuster zu schweigen, damit ich nicht als Ausländer auffalle, und weist wortlos auf die zerstörten Gebäude, die Moscheen vor allem, ausgebrannte Tankstellen, die Spuren der Panzer auf dem Beton. Je ärmlicher die Häuserreihen wirken, desto mehr Einschußlöcher haben sie. Anders als in Ägypten oder Tunesien, wo die Revolution in den Zentren der Großstädte stattfand, gingen die syrischen Proteste von den ländlichen Regionen sowie den Rändern und ärmeren Vierteln der Städte aus, wo die liberalen Wirtschaftsreformen unter Baschar al-Assad nicht nur das Elend verschärften; denn gleichzeitig sahen die Menschen den plötzlichen, für das einst sozialistische Syrien ungewohnt auffälligen Reichtum einiger weniger, die westlichen Limousinen und SUVs, die neuen Boutiquen und schicken Restaurants, die leuchtenden Werbetafeln allerorten. Die Tafeln, die an den Ausfallstraßen für Internetverbindungen oder Kücheneinrichtungen werben, stehen immer noch auf den haushohen Pfeilern aus Eisen, nur scheint es niemanden mehr zu geben, der sie austauscht oder die Glasscheiben reinigt. Der Schuster fordert mich mit einem Blick auf, auszusteigen, und nimmt mich in eine staubige Gasse mit, wo die Nachbarn auf dem Bürgersteig Backgammon spielen. Wir treten in eines der vierstöckigenHäuser, die nicht nur außen unverputzt sind, im Flur kommen uns mehrere Katzen entgegen, steigen die Treppen, vor jeder Wohnungstür staubüberzogene Schuhe, und gelangen aufs Dach, das im Sommer gleichzeitig Bettenlager und Rumpelkammer ist:
– Siehst du den Krieg? fragt der Schuster.
Ja, ich sehe vier schwarze Rauchsäulen in die Luft steigen, keine fünfhundert Meter entfernt, schätze ich, und höre die Schüsse der Sturmgewehre.
Der Verlauf ist immer der gleiche: Die Rebellen beziehen Stellung in einem Stadtteil, in dem sie auf die Unterstützung der Bevölkerung zählen können – nicht nur in Damaskus sind es die ärmeren, überwiegend von Sunniten bewohnten Vororte und Viertel. Dann rückt die Artillerie an, die inzwischen auch von Luftangriffen und Raketen flankiert wird, um die Menschen zu «befreien», wie es im Staatsfernsehen jedesmal heißt.
– Aber der Staat lügt! beteuert der Schuster und zeigt wieder auf die Rauchschwaden: Niemals werde irgendwer vorgewarnt, die Bewohner flöhen erst, wenn schon die Dächer über ihren Köpfen einstürzten: Sprich mit den Menschen, wenn du in Syrien bist! Jeder einzelne hier wird dir tausend Wahrheiten sagen.
Zurück auf dem Bürgersteig, setzen wir uns zu den Männern, die in ihren traditionellen Dschellabas Backgammon spielen. Daß sie, daß alle Menschen oder jedenfalls alle Sunniten im Viertel auf die Revolution hoffen, scheint so selbstverständlich zu sein, daß eigens auf den Nachbarn hingewiesen wird, der den Staat noch unterstützt. Jeder einzelne berichtet von Greueltaten der Sicherheitskräfte, Hinrichtungen auf offener Straße, die er mit eigenen Augen gesehen habe, Folterungen, Bombenangriffen. Dabei erfahre ich auch von dem Lebensmittelhändler an der Ecke, der vor ein paar Tagen erst verhaftet worden sei.
– Haben Sie denn keine Angst? frage ich.
– Das syrische Volk hat starke Herzen, antworten sie.
Ja, das hat es, denke ich und wundere mich bei diesem wie bei so vielen anderen Gesprächen, die ich in dieser Woche führe, daß ich eines nicht wahrnehme: Haß.
Diese Menschen, durchweg sogenannte einfache Leute, viele Männer mit Bart, ihre Frauen alle mit Kopftuch, haben neun Monate friedlich demonstriert, sind niedergeknüppelt, beschossen und schließlich in einen Krieg hineingezogen worden, der gerade in diesem Moment
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