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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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bevor er schließt: «Friede sei mit Euch, die Barmherzigkeit Gottes und Sein Segen.»
    Manche der älteren Herren kreischen regelrecht und zittern am ganzen Leib, auch der Nachbar. Sie haben gehört, was sie hören wollten und was seit Jahren nicht mehr so klar, so simpel, so aggressiv klang: die Welt als Kampf zwischen Gut und Böse, wir gegen sie. Nach dem Gebet ziehen viele skandierend durch die Straßen, die einen in diese, die anderen in jene Richtung, erkennbar spontan, aber noch viele Häuserblocks entfernt angetrieben von demEinpeitscher, der wieder ans Mikrophon getreten ist. Wer von heute an demonstriert, lehnt sich nicht mehr gegen die Regierung, sondern gegen den Führer auf: In der Lesart der heutigen Islamischen Republik bedeutet dies einen «Krieg gegen Gott» und ist ein todeswürdiges Verbrechen.
    Die Studenten und Journalisten, mit denen ich am Morgen noch gesprochen habe, sind abends nicht mehr zu erreichen, genausowenig die Familie des jungen Mannes, der im Studentenwohnheim erschlagen wurde. Stand Freitag, 19. Juni 2009 sind fünfhundert Wortführer der Opposition verhaftet, die Demonstranten nicht mitgerechnet, die im Laufe der Woche festgenommen wurden. Um so überraschter bin ich, als mich abends der ehemalige Innenminister Abdollah Nuri zurückruft, ein Geistlicher im Range eines Hodschatoleslams, der lange im Gefängnis saß und unter allen Reformpolitikern der einzige mit unbestrittener
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außerhalb der eigenen Bewegung ist.
    – Wie ist Ihre Prognose? möchte er zunächst wissen, als ich ihm gegen Mitternacht im fensterlosen Versammlungsraum seines Hauses gegenübersitze.
    Ich vermute, daß die Schweigenden einen offenen Kampf nur verlieren könnten, nicht allein wegen der Übermacht der anderen Seite, ihren organisatorischen und propagandistischen Vorteilen, ihren Waffen und der Bereitschaft, sie einzusetzen: Die beim Freitagsgebet hätten ihre Geschichte zu verlieren und seien daher zu allem bereit; die Schweigenden hingegen opferten sich in der Mehrheit nicht mehr für ein politisches Ziel, eine Ideologie oder einen Führer auf, was eigentlich ein Fortschritt sei. Und selbst wenn morgen die Studenten auf die Straße gingen, die der Geschichte ihre Zukunft entgegenstellten, stünden ihnen doch nicht die Bürger zur Seite, die Arbeiter, der Basar.
    Abdollah Nuri ist optimistischer:
    – Wer sagt denn, daß die Drohung wahrgemacht wird?
    Wer so aggressiv spreche und sich ohne erkennbaren Grund so eindeutig positioniere, habe entweder Panik oder wolle einschüchtern. Wie er höre, seien die Revolutionswächter keineswegs einmütigin ihrer Bereitschaft zur Gewalt. Kommen morgen um vier genügend Demonstranten zum Revolutionsplatz, woran er glaube, habe das Regime verloren. Erteile es den Schießbefehl, gerieten spätestens die Trauerfeiern zum offenen Aufstand. Hielte sich das Regime zurück, erwiese sich die Drohung des Führers als leer.
    Ob er nicht mit seiner Verhaftung rechne, frage ich noch.
    – Die Tasche ist schon gepackt, lacht Abdollah Nuri.
Zurück zum Samstag
    Vom Ferdousi-Platz an, der gut zwei Kilometer entfernt liegt, ist die Stadt besetztes Land: Entlang der Bürgersteige stehen alle fünf Meter Polizisten mit Helm, Knüppel und Schild, außerdem Agenten des Geheimdienstes, die in Iran alles sind, nur nicht geheim. Einsatzleiter sind an den Walkie-Talkies zu erkennen. Über die Revolutionsstraße verteilt und in allen Nebenstraßen warten auf Lastwagen oder in Mini-Bussen die Freiwilligenmilizen und Antikrawallkommandos. Tragen die Freiwilligenmilizen außer Weste, Helm und Knüppel ihre Straßenkleidung, wirken die Antikrawallkommandos mit ihrem Ganzkörperschutz aus schwarzem Plastik wie ein Insektenschwarm. Auf der Straße ziehen abwechselnd die Mopeds der Milizen und die Geländemotorräder der Kommandos vorbei, auf denen jeweils zwei Männer sitzen, einer am Lenker, der andere mit Knüppel. Manche Beifahrer halten einen Holzbalken in Händen. Noch nicht zu erkennen sind die sogenannten Zivilgekleideten,
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, die am meisten gefürchtet werden, weil sie nicht erst das Fürchten lehren, sondern sofort zuschlagen. Die Geschäfte sind geöffnet, auf der Straße der übliche Verkehr. Je näher ich dem Revolutionsplatz komme, desto jünger werden allerdings die Fußgänger.
    – Die Polizisten nicht ansehen, flüstert ein junger Mann mit Rucksack, weil ich offenbar zu neugierig wirke: Gehen Sie ganz normal weiter.
    So beklommen uns wohl beiden zumute

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