Ausnahmezustand
keine fünfhundert Meter entfernt tobt. Sie haben die Bilder der Massaker gesehen, zuletzt im Damaszener Vorort Darayya, nur ein paar Kilometer entfernt, mutmaßlich vierhundert Tote, viele Frauen und Kinder darunter, vierhundert Sunniten, muß man auch sagen, weil sich der Terror gezielt gegen die Mehrheitsbevölkerung richtet. Und doch sprechen sie nicht von Vergeltung, sondern schwärmen von ihrer Stadt als der ältesten der Welt, die niemals einer einzelnen Volksgruppe oder Religion gehört habe, sympathisieren zwar mit den Rebellen, aber kritisieren deren Strategie des Häuserkampfes, schimpfen auf die Golfstaaten, die innerhalb des militärischen Widerstands ausschließlich die radikalen Gruppen unterstützten, und betonen, daß sich ihr Zorn gegen das Herrscherhaus richte, nicht gegen die Alawiten als solche. Ist das glaubwürdig, wenn die Elite des Staates wie des Militärs fast ausschließlich aus Alawiten besteht und für die Massaker gezielt alawitische Milizen eingesetzt werden, wie die Männer doch ebenfalls erwähnen? Sie wollten nicht ausschließen, sagen sie, daß es hier und dort zu Racheakten kommen werde, und fangen wieder an, auf die Golfstaaten und die Salafiten zu schimpfen. Aber das syrische Volk sei klug genug, zu wissen, daß die Regierung einen Konfessionskrieg anzettele, um die Opposition als Gotteskrieger zu denunzieren. Der Mann, der als einziger in der Straße das System noch unterstütze, sei schließlich ebenfalls Alawit und spiele dennoch mit ihnen Backgammon. Vielleicht das syrische Volk, aber nicht der Schuster und seine brettspielenden Nachbarn, ich glaub’s, werden der Regierung den Gefallen tun, sich an einem Heiligen Krieg zu beteiligen.
Ich erzähle nur von dieser einen, zufällig ersten Bekanntschaft so ausführlich, dabei wiederholt sich das Muster und könnte ich von den meisten Begegnungen sehr ähnlich berichten: Gefragt, wo ich herkomme, stelle ich mich als ausländischen Berichterstatter vor, und schon sind wir mitten im Gespräch oder werde ich mitgenommenin jene Gegenden der Stadt, von deren Besuch das Informationsministerium wohl nicht nur aus Gründen der Sicherheit abrät. Ich bin selbst überrascht, daß ich mich so frei bewegen darf. Mit einem Journalistenvisum eingereist, übergebe ich am ersten Vormittag meine Liste mit Politikern, die ich interviewen möchte – das war’s. Vielleicht werde ich beschattet, vielleicht wird mein Telefon abgehört, doch eher vermute ich, daß die Sicherheitskräfte derzeit andere Sorgen haben. Auch die Künstler und Intellektuellen, die sich mit der Anzahl ihrer Gefängnisjahre vorstellen, und die Oppositionellen, deren Versammlungen man daran erkennt, daß ihre abgeschalteten Handys auf dem Sofa im Vorzimmer liegen, auch sie bestätigen, daß sie kaum noch behelligt werden, seit die friedlichen Massenproteste in einen bewaffneten Aufstand umschlugen. Der Staat konzentriere sich auf den militärischen Kampf, ich dürfe sie ruhig mit Namen zitieren.
Künstler der Revolution
Mouneer al-Sharaani sagt, daß ihm derzeit alle Kalligraphien zu politischen Aussagen gerieten, es sei wie verhext. Obwohl der Aufstand schon so lange dauere, achtzehn Monate schon, fühle er sich immer noch wie im Ausnahmezustand und könne an wenig anderes mehr denken. Al-Sharaani, ein leise sprechender, sehr höflicher Herr mit weißem Bart, der die Leidenschaft seiner Worte nicht in Gesten und Ausdrücke überträgt, empfängt mich in seinem Atelier, in dem vor allem ältere, das heißt in Syrien inzwischen: vorrevolutionäre Arbeiten ausgestellt sind, extrem formalisierte, manchmal geradezu abstrakt anmutende Schriftzüge, die gleichwohl auf der genauen Beherrschung der kalligraphischen Formensprache beruhen. Er gehört zu den bekanntesten Kalligraphen der islamischen Welt, seine großflächigen Schriftzüge werden auf Auktionen in London oder Dubai zu Höchstpreisen gehandelt. Und doch ist ihm heute mehr daran gelegen, auf seinem Laptop die kleinen Spruchtafeln und Logos zu zeigen, die er für die Demonstranten entworfenhat: «Nein zur Angst», «Nein zur Armut» oder auch «Nein zum Schweigen».
Daß ein Teil der Bewegung schließlich zu den Waffen gegriffen habe, sei angesichts der Gewalt des Staates unvermeidlich und dennoch ein… – al-Shaarani zögert, weil er das Wort «Fehler» vermeiden möchte – …nicht richtig gewesen, weil die Regierung genau das herbeiführen wollte, um die Revolutionäre zu Terroristen zu erklären und noch härter
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