Ausnahmezustand
zuzuschlagen. Die friedlichen Massendemonstrationen, die der Regierung mehr zugesetzt hätten, seien seitdem nicht mehr möglich, nur noch dezentrale, kurzfristig angesetzte und also kleinere Protestversammlungen, deren Bilder kaum noch in die internationalen Nachrichtensendungen gelangten. Ein Fehler sei es gewesen, jetzt benutzt al-Sharaani das Wort doch, daß die Waffen nicht wie anfangs zur Verteidigung, sondern zunehmend auch offensiv eingesetzt würden. Die Freie Armee sei kaum in der Lage, die Viertel und Städte, die sie besetze, tatsächlich zu halten, wenn die Regierungstruppen ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung heranrückten. Außerdem sei praktisch nicht mehr zu kontrollieren, wer alles mitmische, zumal die Regierung Hunderte, Tausende Kriminelle aus den Gefängnissen entlassen habe. Hinzu kämen die religiösen Extremisten, die aus dem Ausland eingeschleust würden. «Nein zur ausländischen Einmischung» sei schließlich auch ein Slogan der Bewegung gewesen, betont al-Sharaani und zeigt mir auf dem Laptop die Kalligraphie.
– Und was erwarten Sie vom Westen? frage ich.
– Nichts erwarte ich vom Westen, sagt al-Sharaani.
– Nichts?
– Ja, es wäre schon viel gewonnen, wenn der Westen gar nichts täte, statt die Muslimbruderschaft zu stärken, die den Nationalrat dominiert, und im Ausland Oppositionsfiguren aufzubauen, die die Lage vor Ort zu wenig kennen. Und gehören denn Saudi-Arabien und Katar nicht zum Westen, können Saudi-Arabien oder Katar irgendetwas tun ohne die Zustimmung des Westens?
– Sie meinen, der Westen läßt die säkularen Kräfte bewußt im Stich, damit die religiösen Kräfte die Oberhand gewinnen?
–Bewußt oder unterbewußt unterstützt die westliche Staatengemeinschaft jedenfalls ausschließlich Islamisten, sowohl im militärischen Widerstand als auch in der Exilopposition.
Später treffe ich al-Sharaani im Atelier seines Freundes Youssef Abdelké wieder, das in einem kleinbürgerlichen, dichtbesiedelten Viertel unweit der gefährlich gewordenen Bagdad-Straße liegt. Die genaue Adresse benötige ich nicht; es genügt, in einem der Geschäfte zu fragen, schon begleitet mich der Händler bis an die Tür, um dem berühmten Künstler selbst einen guten Abend zu wünschen. Großgewachsen, mit weißem Zopf und dichtem Schnurrbart, sticht Abdelké aus seiner Nachbarschaft auch äußerlich hervor. Die beiden Freunde platzieren mich auf ein Sofa und rücken links und rechts zwei Holzstühle heran, beide ungefähr im selben Alter, etwas über sechzig, ihr Französisch mit dem samtweichen Akzent der Levante, zwei Weggefährten, zwei langjährige politische Aktivisten, Abdelké lange Jahre im Gefängnis, el-Sharaani im Exil, auch zwei ehemalige Kommunisten – Ich bin immer noch Kommunist! ruft Abdelké dazwischen –, und sind voller Hoffnung, in ihrem Alter doch noch die Freiheit zu erleben, für die sie ein Leben lang gekämpft haben.
– Die Menschen haben die Angst verloren, sagt Abdelké: Das ist das Entscheidende – vierzig Jahre Angst sind vorbei.
Mit Waffengewalt könne sich das Regime noch eine Weile halten, aber auf Dauer nicht mehr gegen ein ganzes Volk regieren, zumal die Lähmung des Landes inzwischen schon so lange anhalte, die Unterdrückung derart brutal geworden sei, daß sich auch die eigene Klientel zunehmend abwende:
– Wir nähern uns dem Punkt, an dem das Überleben des Regimes niemandem mehr nützt.
Youssef Abdelké beteuert, nicht alle seine Bilder seien politisch geworden. Als er die jüngsten Arbeiten auf dem Boden des Ateliers ausbreitet, Zeichnungen von Tieren und Stilleben darunter, erkennt sein Freund al-Sharaani dennoch die Not und Spannung der gegenwärtigen Situation in jedem einzelnen Motiv wieder.
Zwei Sichtweisen
Es mag noch einen anderen Grund geben, warum das Informationsministerium meine Wege nicht verfolgt: Mein Hotel liegt im christlichen Teil der Altstadt, wo nun wirklich kein revolutionärer Wind weht, und soweit ein Ausländer ohne Schwierigkeiten an den Checkpoints durchgelassen wird, bewegt er sich in einer gesellschaftlichen Schicht, in der die Rebellen jedenfalls von einem Teil der Bewohner für Terroristen gehalten werden und die Opposition für das ungebildete, vom Ausland aufgewiegelte Volk. Um wieder nur eine von vielen ähnlichen Begegnungen zu schildern, sei nur der nette Ingenieur erwähnt, der aus einer der Vorstädte ebenfalls vor dem Krieg fliehen mußte, aber sich mit seiner Familie wenigstens das gute
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