Ausradiert: Thriller (German Edition)
noch viel weniger. Ein Notarzt machte eine Bemerkung über die langsame Gerinnung und stellte Fragen nach Medikamenten, gesundheitlichen Problemen und Krankenhausaufenthalten in der letzten Zeit, die Nick verneinte. Ein paar Stiche – Nick bekam die genaue Anzahl nicht mit – an seinem Bein, und er war draußen.
Draußen wartete ein Detective namens Stenowski. Nick machte es kurz. Rui war ein möglicher Zeuge in einem Vermisstenfall, hatte ein Messer gezückt und war auf der Flucht von der Feuertreppe gestürzt. Stenowski hatte zwei Fragen.
Erstens: »Wer wird vermisst?«
Nick sagte es ihm. Stenowski gab Amanda Rummel ins System ein, erhielt keinen Treffer.
Zweitens: »Haben Sie Kim Delaney kennengelernt?«
»Wir haben zusammen Kaffee getrunken.«
»Echt?«, sagte Stenowski. »Ich hab mal Sylvester Stallone die Hand gegeben. Er reicht mir bis hier. Ich könnte seine Hand wie Nichts zerquetschen.«
»Nach dem zweiten Kampf gegen Apollo Creed war er nie mehr derselbe«, sagte Nick.
Stenowski lachte, ein Lachen, das er rasch unterdrückte, als ihm dämmerte, dass der Witz ihm gegolten haben könnte. Er schnippte mit dem Daumennagel gegen Ruis Führerschein. Die Akte von Rui, den er ebenfalls ins System eingegeben hatte, wies ein halbes Dutzend Verhaftungen auf – Drogen, Diebstahl, tätlicher Angriff – und zwei Verurteilungen, die insgesamt zu fünfzehn Monaten Gefängnis geführt hatten, und zusätzlich drei offenstehende Strafmandate.
»Der klassische Verlierer«, sagte Stenowski. »Haben Sie eine Nummer, unter der ich Sie erreichen kann?«
Nick gab ihm seine Karte, gleichzeitig gelang es ihm, einen Blick auf Ruis Adresse zu werfen.
Rui Estrella, 1491 Rosetta Street, Glendale. Nick parkte vor dem Haus, der abkühlende Motor tickte leise durch die Nacht. Du bist in meinem Scheiß-Haus gewesen. Ein niedriger Gipskarton, der Umriss eher quadratisch: Besaß er irgendwelche Erinnerungen daran? Nicht eine. Er stieg aus dem Wagen, richtete seine Taschenlampe auf ein Maklerschild im Vorgarten: VERKAUFT. Und das Haus selbst war dunkel. Nick ging zur Eingangstür, drückte auf die Klingel. Kein Summen, sondern ein Läuten. Ein scharfes, deutliches Geräusch, die Art, die man hört, wenn alle weichen Oberflächen verschwunden sind. Niemand kam an die Tür. Nick richtete den Strahl durch die Fenster. Das Haus war leer, bar aller Möbel, Teppiche, Gerätschaften, Bilder, aller Annehmlichkeiten eines Heims; eine leere Schachtel.
Nick ging zur Rückseite, beleuchtete einen langen diagonalen Erdbebenriss in der Mauer, nicht mal für den Verkauf grob verputzt, obwohl der Preis deswegen bestimmt um ein paar Tausender gesunken war. In der Hintertür war allerdings eine neue Scheibe, der Aufkleber befand sich noch an Ort und Stelle. Nick leuchtete hinein, noch mehr Leere.
Er wandte sich zum Garten, roch sofort ein starkes Aroma von … was? Tee. Sein Gedächtnis rührte sich, meldete aber nichts, gerade außer Reichweite, genau wie die Tangbüschel im Meer. Nick fuhr um den Block, parkte vor Nummer 313 in der Coursin Street und ging zur Haustür.
Hier war er schon einmal gewesen, eine schnelle Besichtigung zusammen mit der Spurensicherung nach Reasoners Verhaftung. War er im Keller gewesen? Er glaubte nicht. Er erinnerte sich nur an den Anstrich des Hauses – dottergelb mit blutroten Rahmen –, der für sich genommen schon irgendwie beunruhigend gewesen war. Die neuen Farben – weiß und aquamarin – waren viel besser, bei Tageslicht wahrscheinlich sogar fröhlich. Nick sah auf die Uhr: 23:48, vielleicht ein bisschen zu spät, um noch zu klopfen. Er klopfte.
Auf der anderen Seite näherten sich Schritte, hielten inne. Nick klopfte erneut.
»Wer ist da?«, fragte eine Frau.
»Nick Petrov«, antwortete er. »Ich bin Privatdetektiv und ermittle in einer Vermisstensache. Es tut mir leid, dass ich –«
Sie riss die Tür auf, eine drahtige Frau mit Stromschlagfrisur und zornigem Blick, wie eine der Furien. In der Hand hielt sie ein Bündel Papiere; auf ihrem Hemd ein Namensschild der Zweiundvierzigsten Jahresversammlung der Southern California CPA’s Association: Hi, ich bin – Stephanie DiPardo :-). »Ich sollte Sie verhaften lassen«, sagte sie.
»Ich weiß, dass es sehr spät ist«, erwiderte Nick. »Aber –«
»Sie haben Nerven, einfach so wieder anzukommen.« Sie warf einen Blick auf sein blutverschmiertes T-Shirt und zwinkerte.
Einfach so wieder anzukommen. »Was immer auch passiert ist, es
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