Ausradiert: Thriller (German Edition)
und noch weiter zurückreichten, blätterte sie durch. Selbstverständlich codiert – gewiss weitere Lücken – und ihm jetzt unverständlich. Er war zuvor darüber gestolpert, stolperte jetzt wieder darüber. Der Unterschied –
Nikolai! Jetzt ist der falsche Zeitpunkt zum Stolpern.
– war, dass das Notizbuch zum Fall Amanda, zumindest das auf dem Stand des verlorenen Wochenendes, verschwunden war. Und das Footballfoto, gestohlen, als ob jemand, der seine Beschränkungen kannte, alle potenziellen Ansätze zerstörte. Er starrte auf die verbleibenden Artefakte, seine Beweise, die auf dem Tisch lagen. Auf dem Tisch lagen, aber nicht so, wie er sie arrangiert hatte; von jemandem mit künstlerischer Empfindsamkeit neu zusammengestellt: Dmitri.
Das Arrangement hatte jetzt die Form eines Diamanten. Die Cocktailserviette mit dem Schriftzug Es gibt keine Gerechtigkeit lag nun allein oben, wie ein Titel. Als Nächstes kamen die Candyland-Karte und die Empty-Box-CD. Mittlere Reihe: dunkelblaue Anzugjacke, zusammengefaltet, Babar, Volleyball. Darunter: Hallmark-Karte und Dr. Tulp. Ganz unten: das alte schwarzweiße Browniefoto der drei kleinen Mädchen auf dem gescheckten Pony, das von dem kleinen Cowboy mit dem großen Stern auf der Brust geführt wurde.
Es ist eine Geschichte, Nikolai. Lies sie.
Nick versuchte die Geschichte zu lesen, eine sehr kurze Geschichte mit einem Titel und vier Zeilen, die mit drei kleinen Mädchen endete, scheinbar glücklich. Ein brünettes und ein blondes, die etwa gleich alt wirkten, und dahinter ein zweites brünettes, ein oder zwei Jahre jünger. Die Züge des kleinen Cowboys wurden von seinem riesigen Hut verdeckt, aber die beiden brünetten Mädchen lächelten starr in die Kamera, und das blonde war tief in Gedanken versunken. Nick konnte das erkennen, wusste auch eine Menge über die Empty-Box-CD, die Candyland-Karte und den Volleyball, sogar über die Hallmark-Karte; aber er konnte die Geschichte nicht lesen. Seiten fehlten, vielleicht ein ganzes Kapitel. Er wollte dieses Footballfoto.
Nick schob Der Fall Reasoner in den Videorecorder. Stimmungsvolle Musik, Nahaufnahme der Postkarte, aber so aufgenommen, dass Dr. Tulp und seine Studenten fast real wirkten, als würden sie posieren. Der Vorspann lief. Basierend auf einer wahren Geschichte; in den Hauptrollen Armand Assante, Kim Delaney, Dennis Franz (als Reasoner eine Fehlbesetzung – Donald Sutherland hatte im letzten Moment einen Rückzieher gemacht).
Nick spulte zu der Szene vor, in der der beratende Psychologe Armand Assante und Kim Delaney erklärt, nach was für einem Mann sie suchen. Die drei sitzen in einem dieser wegen der interessanten Lichteffekte mit halb heruntergelassenen Jalousien ausgestatteten Büros. Der Psychologe, dargestellt als doofer Akademiker ohne Straßenerfahrung, spult eine lange Liste psychischer Defizite und Verhaltensstörungen ab, von denen keine in Bezug zu Kindesmissbrauch steht. Armand Assante wirkt skeptisch, nicht wegen des Mangels an Kindesmissbrauch, sondern wegen des abgehobenen Vortrags. Kim Delaney sagt: »Sie meinen also, er ist ein gemeiner Hurensohn.« Der Psychologe, dessen Gesicht von den Schatten der Jalousien zerteilt wird, wirkt verärgert. Armand Assante grinst.
Nick spulte vor.
Alles ruckelt vorüber, die erhöhte Geschwindigkeit reizt zum Lachen, wie in einem Monty-Python-Sketch. Dennis Franz glättet seinen Schnurrbart, legt OP-Kleidung und -Handschuhe an. Er schleicht einen dunklen Flur hinunter, greift eine Frau von hinten an. Sie wehrt sich, die Augen weit aufgerissen, kreischend. Seine Augen. Leuchtend vor sexueller Erregung. Seine Augen. Die Lampe. Sie schlägt damit auf ihn ein. Seine Augen. Die Erregung verwandelt sich von sexuell in mörderisch. Sie entkommt fast. Auf dem Boden. Rollen, treten, Durcheinander. Er durchbohrt ihr Herz mit einem Skalpell. Blut. Er schleift sie in die Küche, schafft sie auf den Tisch, öffnet seine Arzttasche, beginnt mit einer dieser seltsamen Pseudoautopsien, die wirklich stattgefunden haben. Blut. Armand Assante und Kim Delaney küssen sich in einem parkenden Wagen in einer dunklen Straße. Sie gehen ins Bett. Sie rollt sich auf ihn. Er rollt sich auf sie. Autos fahren schnell, im Hintergrund ein greller Sonnenuntergang. Armand Assante hebt ein Fotoalbum hoch, blättert es durch. Bilder von Maui schwirren vorbei.
Nick drückte auf Play. Die Geschichte wurde wieder langsamer.
Musik: aufsteigende Noten auf einem Synthesizer.
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