Außer Atem - Panic Snap
fünfzehn Jahren geschehen ist.« Er schüttelt den Kopf. »Es ist nicht so, wie du glaubst. Ganz und gar nicht.«
»Sag mir, was geschehen ist«, bitte ich.
Wieder hebt er die Hand und fährt mit dem Finger leicht über meine Lippen, als könne er die Veränderung meines Aussehens nicht begreifen. »Du warst naiv«, sagt er, während er meinen Mund anstarrt, »aber auch unglaublich. Du hast alles getan, worum ich dich gebeten habe.«
»Und dann hast du versucht, mich zu töten.«
Er betrachtet mich und sucht in meinem Gesicht nach etwas Vertrautem. »Nein«, sagt er.
Ich bewege mich nach rechts und versuche, von ihm loszukommen. Er legt mir die Hand leicht auf die Schulter, und diese Bewegung hält mich auf, obwohl er keine Gewalt anwendet. Das hat er auch nicht nötig. Er selbst ist Drohung genug.
»Was ist mit mir geschehen?«, frage ich.
Er schaut über meinen Kopf hinweg zum Weingarten hinüber. »Ich werde es dir sagen«, sagt er, »aber vorerst musst du noch etwas für mich tun.« Noch immer starrt er mit abwesendem Gesichtsausdruck zum Weinberg hinüber.
»Und was?«, frage ich angstvoll.
Nun sieht er mich wieder an. »Das beenden, was wir begonnen haben«, sagt er. »Damals war ich dein Lehrer. Ich habe dich Dinge gelehrt, die kein anderer dir beibringen konnte. Aber wir sind unterbrochen worden. Es ist etwas dazwischengekommen. Ich möchte dich auf die restliche Wegstrecke mitnehmen.«
Ich schüttele den Kopf.
»Du hast keine Wahl«, stellt er fest. »Warum hast du das Risiko auf dich genommen, nach Byblos zurückzukehren?« Er wartet meine Antwort nicht ab, sondern beantwortet seine Frage selbst. »Du willst herausfinden, was geschehen ist – und ich bin der Einzige, der es dir sagen kann.« Er zögert und fügt hinzu: »Du wirst es nicht bereuen. Und du wirst alle Antworten bekommen, die du brauchst.«
»Ich könnte es deiner Mutter erzählen«, sage ich.
Er gibt ein kurzes, spöttisches Lachen von sich. »Was willst du ihr denn erzählen? Dass dir vor fünfzehn Jahren etwas zugestoßen ist und ich dafür verantwortlich bin? Das wird zu nichts führen. Sie hat dich damals nicht gekannt, Gina auch nicht. Ich bin der Einzige, der dir deine Vergangenheit zurückgeben kann. Außerdem bezweifele ich, dass meine Mutter dir glauben würde. Deine Glaubwürdigkeit hat etwas gelitten. Ich habe gehört, dass du um ein Haar die Küche abgefackelt hättest.«
»Habe ich nicht...«
Er bringt mich zum Schweigen, indem er mir einen Finger auf die Lippen legt. »Es wird dir nicht helfen, wenn du ihr etwas erzählst, und auch nicht, wenn du zur Polizei gehst. Hier gibt es nichts, was dich mit mir in Verbindung bringt. Niemand wird dir glauben. Ich dagegen kann dir helfen. Ich kenne die Wahrheit. Gib mir, was ich haben möchte, und ich gebe dir alle Antworten.«
Ein eisiges Gefühl, eine kühle Vorahnung erfasst mich. Ich befehle mir fortzugehen, die Herausforderung nicht anzunehmen, doch ich bleibe wie angewachsen stehen. Ich weiß, dass es dumm ist, seinen Vorschlag überhaupt in Erwägung zu ziehen; meine Zustimmung wäre das Eingeständnis, dass ich nichts mehr zu verlieren habe. In Wahrheit hat man aber immer noch etwas mehr zu verlieren. Es gibt keinen absoluten Tiefpunkt, kein letztes Ende an Schmerz, Elend oder Leid. Immer kann es ein Mehr geben. Ich weiß das – und trotzdem wende ich mich nicht ab. Mein Verlangen nach Wissen ist größer als meine Angst.
»Wie heiße ich?«, frage ich. »Wie ist mein richtiger Name?«
Er fährt mit dem Finger meine Kinnlinie nach, scheint Spuren des jungen Mädchens zu suchen, das ich einmal war. »Du bist seit fünfzehn Jahren Carly«, erwidert er schließlich. »Dabei werden wir es vorläufig belassen.«
Er wendet sich ab und geht zu seinem Wagen. »Komm heute Abend zu mir«, sagt er über die Schulter. Er bittet nicht, er befiehlt. Und er fügt hinzu: »Komm früh.«
11
Oben an der Wendeltreppe halte ich inne. Ich zögere. Ich trage ein kurzes, jadefarbenes Kleid, einfach geschnitten, mit Spaghettiträgern und mit glitzernden Pailletten besetzt, und ein Make-up, das dunkler ist als sonst: pflaumenfarbener Lippenstift und ein leicht verschmierter schwarzer Lidstrich. An der Haustür klebt ein Zettel, auf dem steht, dass er in ein paar Minuten zurück sein wird und dass ich es mir bequem machen soll. Derart eingeladen, trete ich sofort ein – mit der Absicht, sein Haus noch einmal zu durchsuchen. Ich vertraue nicht darauf, dass er mir die Wahrheit sagen
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