Außer Atem - Panic Snap
angesehen, Carly. Sie gehören hier einfach nicht her.«
Als ich schweige, schüttelt sie ein wenig verwirrt den Kopf. »So viel zu Überraschungen«, sagt sie achselzuckend. »Ich dachte, ich tue Ihnen einen Gefallen.« Sie wendet sich zum Gehen.
»Gina«, sage ich.
Sie schaut mich an.
»Danke, dass Sie mich Ihrem Freund empfohlen haben. Ich weiß das sehr wohl zu schätzen. Ich bin nur im Augenblick wirklich nicht auf der Suche nach einer neuen Anstellung. Mir gefällt es hier.«
Sie kommt zu mir zurück und schiebt den Zettel in die linke Brusttasche meiner Bluse. »Denken Sie darüber nach«, sagt sie sanft, fast schwesterlich. »Es ist nur zu Ihrem Besten.«
Dann geht sie, und ich höre, wie die Haustür sich öffnet und wieder schließt. Wieder allein, spüre ich einen leichten Stich im Herzen, ein Sehnen, ein Bedürfnis, jemanden zu haben – vielleicht eine Schwester –, dem meine Interessen am Herzen liegen.
Wieder betrachte ich das Porträt der McGuanes, ihre lächelnden Gesichter, und frage mich, ob ich irgendwo in irgendeinem Haus, vielleicht versteckt in einer Truhe auf dem Dachboden, auf einem Familienporträt zu sehen bin. Bin ich einmal gemalt worden? Habe ich irgendwann gewusst, was zwischen Eltern und Kind vor sich geht? Zwischen Bruder und Schwester?
Nein, das glaube ich nicht. Wie könnte ich? Familienbeziehungen sind etwas so Fremdes für mich, seltsam und weit außerhalb meines Begriffsvermögens.
Ich gehe auf die andere Seite des Raums, zu einem anderen Bild. Familienporträts verwirren mich, doch dieses Bild verstehe ich – und auch das zieht mich an. Es ist eine Picasso-Reproduktion, das sehr sinnliche, erotische Bildnis einer nackten Frau, die verführerisch und biegsam in einem dunklen Sessel sitzt. Als ich es zum ersten Mal betrachtete, meinte ich, auch einen Mann zu sehen, dessen Gesicht hinter dem Sessel schwebt und nach unten starrt, doch dann habe ich erkannt, dass die Frau allein ist. Sie hat zwei Köpfe, einen dunklen und einen hellen, verdrehte Brüste und einen schwarz gemalten Schlitz als Genitalien. Manchmal fühle ich mich auch so: wirr, in Unordnung, mit einer dunklen und einer hellen Seite, die nicht unbedingt im Einklang miteinander sind. Dieses Bild kann ich verstehen.
10
»Wo bewahren Sie alte Unterlagen auf?«, frage ich Patsy Wilson, die das Büro von Byblos leitet. Sie ist um die fünfzig; heute trägt sie eine blau karierte Bluse, die über der Brust derart spannt, dass die Knopflöcher sich dehnen. Mollig und kurvenreich, sieht Patsy aus wie eine alternde Stripperin – immer kurz davor, aus ihren Kleidern zu hüpfen.
Heute ist sie allein und saust zwischen Computer, Faxgerät und dem Aktenschrank in der Ecke hin und her. Ich habe gerade einen Teller mit Dattel-Nuss-Keksen hingestellt, und sie nimmt sich noch einen, ehe sie zu ihrem Schreibtisch zurückkehrt. Hin und wieder bringe ich den Leuten in der Kellerei etwas zu naschen – Zimtbrötchen, gewürzte Madeleines, Mohnbutterkuchen oder einen frischen Birnenkuchen. Es macht mir Spaß, sie mit einer Leckerei zu überraschen, doch meist ist das nur ein Vorwand, um überall herumwandern zu können.
»Unterlagen?«, wiederholt Patsy und sieht von ihrem Computer auf. Puderzucker klebt an ihrer Oberlippe. Sie drückt eine Taste, und der Drucker, der neben dem Monitor steht, gibt ein Dokument aus. »Was für Unterlagen?«
»Bewerbungen von Angestellten und so was. Wo sind die Unterlagen von den Leuten, die vor, sagen wir mal, fünfzehn oder zwanzig Jahren hier gearbeitet haben?«
Sie lächelt. Einer ihrer Schneidezähne ist mit rotem Lippenstift beschmiert. »Herzchen«, sagt sie, »die sind schon vor Jahren vernichtet worden.«
Ich zucke die Achseln und versuche, meine Enttäuschung nicht zu zeigen.
»Sind Sie sicher?«, frage ich nach.
Patsy liest eine der Seiten, die aus dem Drucker kommen, und nickt. »Wir bewahren sie sieben Jahre lang auf, und dann werfen wir sie weg.« Sie schaut mich an. »Warum das plötzliche Interesse?«
»Kein Interesse«, sage ich mit weiterem Achselzucken. »Ich habe mich nur gefragt, wo Sie das ganze Zeug aufbewahren. Hier sieht es doch ziemlich voll aus.«
»Da haben Sie allerdings Recht«, erwidert sie und liest weiter.
Als ich eine weitere Frage stellen will, klingelt das Telefon. Sie schaut hoch und sagt: »Wenn Sie irgendetwas über diese Unterlagen wissen wollen, fragen Sie doch Gina oder James. Die können Ihnen alle Auskünfte geben.« Dann greift sie nach dem
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