Außer Atem - Panic Snap
Plastikreiter, und auf den Schildchen sind die verschiedenen Geschäftsbereiche der Weinkellerei vermerkt. Ich gehe jede Mappe sorgfältig durch, damit ich nichts übersehe, doch ich entdecke nichts Interessantes. Ich weiß nicht genau, wonach ich suche, doch wenn ich es sehe, werde ich es erkennen.
Ich öffne die zweite Schublade und finde weitere Dokumente, die die Weinkellerei betreffen, Geschäftsunterlagen und alte Steuererklärungen. Ich durchforste sie alle in mühevoller Kleinarbeit, prüfe jedes einzelne Blatt, weil ich wissen will, ob es zur Erhellung meiner Vergangenheit beitragen kann. Als ich mit der letzten Mappe fertig bin und auf die Uhr schaue, stelle ich fest, dass das alles länger gedauert hat, als ich gedacht hatte. Ich ziehe die letzte Schublade auf. Bevor ich mich mit dem ersten Ordner befasse, überfliege ich die Titel aller Mappen. Und ganz weit hinten entdecke ich das, wonach ich gesucht habe: eine Mappe mit der Aufschrift »Anna Maria McGuane«.
Aufgeregt ziehe ich sie heraus. Ich setze mich in James' Schreibtischsessel und öffne die Mappe. Er besitzt je eine Kopie ihrer Sterbeurkunde, der Todesanzeige und des Zeitungsartikels über ihren Tod. Da ich diese Unterlagen auch habe, lese ich sie nicht mehr durch. Als Nächstes finde ich ihre Geburtsurkunde, ihre Sozialversicherungsnummer, ihre Diplome von der Highschool und vom College. Ganz hinten in der Mappe befinden sich zwei dicke braune Kuverts. Das erste enthält Dokumente ihrer Eltern, die, wie ich sehe, bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind, als Anna acht war, und verschiedene andere persönliche Papiere von Anna. Ich schaue sie mir an, füge ihre Lebensgeschichte zusammen, erschaffe das Bild ihres Lebens, einen mosaikartigen Lebenslauf aus ein paar Schriftstücken. Sie ist nach dem Unfall der Eltern bei ihrem Großvater aufgewachsen, dem gemeinsam mit zwei Brüdern mehrere große Weinkellereien sowohl im Napa Valley als auch im Sonoma Valley gehörten. Nach den vielen Schnappschüssen zu urteilen – sie Hand in Hand mit ihm, mit ihm zusammen auf dem Traktor fahrend, auf seinem Schoß sitzend – muss sie ihn verehrt haben. Auf allen Fotos lächelt oder lacht sie. Sie war ein süßes kleines Mädchen mit lockigen schwarzen Haaren und braunen Augen, und sie wuchs zu einer attraktiven, schlanken und langbeinigen Frau heran, die ein ausgelassenes Lachen hatte und einen graziösen Hals. Es gibt ein Pfadfinderinnen-Bild von einem Campingaufenthalt im Wald; dann das Foto vom College-Ball, da ist ihr Haar zu einer gewaltigen Hochfrisur aufgetürmt, und sie trägt ein langes Satinkleid; ein Schnappschuss zeigt sie bei der Arbeit im Weingarten, und auf einem anderen steht sie neben einem Lastwagen ihres Großvaters, dessen Ladefläche mit gerade gelesenen Weintrauben gefüllt ist. Ich lese einen Zeitungsartikel über ihren Großvater. Obwohl er einer der größten Weinanbauer im Bezirk war, hat er keinen Wein hergestellt, sondern seine hochwertigen Trauben an örtliche Weinkellereien verkauft. Dann entdecke ich die Kopie seines Testaments. Er hat Anna, seinem einzigen Enkelkind, all seinen Besitz und all sein Geld vermacht.
Ich öffne das zweite braune Kuvert. Darin liegt eine Kopie von Annas Testament. Ich lese es sorgsam durch, um es auch wirklich zu verstehen. Dann lehne ich mich in dem Sessel zurück und denke nach. James hatte ein Motiv, einen Grund, seine Frau zu töten: Er war ihr Alleinerbe.
Zum Abendessen gibt es gegrillten Seebarsch mit einer Zitronen-Kapern-Sauce, einem Salat aus jungem Blattgemüse, das ich im Garten frisch geschnitten habe, und in heißem Fett, Knoblauch und Sherry geschwenkte Pilze auf cremiger Polenta. Ich fühle mich seltsam unwohl, muss jeden einzelnen Bissen mühsam herunterwürgen. Diese Art von familiärem Zusammensein mit James bin ich nicht gewöhnt. Unsere Beziehung ist elementar, ursprünglich, nicht für eine leichte Konversation bei Tisch gedacht. Die Alltagsroutine gehört nicht zu unseren Erfahrungen, und ich habe Probleme damit, hier zu sitzen und so zu tun, als sei das alles ganz normal.
James dagegen scheint das nichts auszumachen. Ihn stört diese Häuslichkeit offenbar nicht.
Als ich mit dem Essen fertig bin, lege ich meine Gabel nieder. Wir sitzen an einem Ende des langen Holztischs, der leicht zwölf Personen Platz bieten kann. Er spiegelt mit seinen hartlehnigen Stühlen, dem dunklen Holz und dem einfachen, nüchternen Stil den steifen mittelalterlichen Hochmut des Raumes wider.
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