Ausser Dienst - Eine Bilanz
Sozialpolitik und ebenso in unserer Wissenschafts- und Bildungspolitik. Allein die Felder der Handels- und Zollpolitik, der Wettbewerbspolitik, der Agrarpolitik und der staatlichen Subventionen sowie – seit der Schaffung der gemeinsamen Euro-Währung und der Europäischen Zentralbank – der Geldpolitik sind auf die Organe der EU übergegangen. Man kann den gegenwärtig erreichten Stand der europäischen Integration so zusammenfassen: Hinsichtlich der Lösung ihrer nationalen Strukturprobleme sind die EU-Staaten weitestgehend frei. Der strukturelle Umbau Deutschlands ist deshalb vorrangig Aufgabe des Bundestages und der Bundesregierung.
Es ist nicht ungewöhnlich, daß Strukturveränderungen in demokratisch geprägten Gesellschaften und Staaten Besorgnisse und Ängste auslösen. Das gilt in einer von elektronischen Medien beeinflußten Gesellschaft wahrscheinlich in höherem Maße als früher in einer Gesellschaft, in der die Bürger sich durch Zeitungen und Bücher informiert haben. Es gilt wahrscheinlich für uns Deutsche noch viel stärker als für die meisten unserer europäischen Nachbarn und Partner. Gerade deshalb muß von der politischen Klasse der Wille zu rationaler Führung und die Tugend der Tapferkeit verlangt werden. Ein Strukturwandel von Wirtschaft und Gesellschaft wird auf jeden Fall stattfinden. Allerdings kann er sich, je nach Qualität und Entschlossenheit der politischen Führung, sowohl außerordentlich schmerzhaft und verlustreich vollziehen als auch gut vorbereitet und ohne bei den betroffenen Bürgern Ängste zu verursachen.
Die großen programmatischen Reden der Bundespräsidenten Roman Herzog 1997 und Horst Köhler 2005 haben die Richtung angegeben, ähnlich im Jahre 2003 Gerhard Schröders »Agenda 2010«. Je zaghafter und zögerlicher die politische Klasse die damit aufgezeigten Wege beschreitet, desto mehr wird sich der Strukturwandel ungeplant und zufällig und vielleicht sogar chaotisch vollziehen. Denn wir können nicht erwarten, daß Unternehmer und Gewerkschaften und alle anderen sich bei ihren Entscheidungen vornehmlich nach dem öffentlichen Wohl richten. Umgekehrt wird der Strukturwandel sich dann zum Wohle der Nation auswirken, wenn und soweit die politische Klasse ihre langfristigen Aufgaben erkennt und ihre Verantwortung wahrnimmt.
Keine Marktwirtschaft und kein Markt schafft automatisch Marktordnung, Wettbewerbsordnung und soziale Gerechtigkeit für die ökonomisch Schwächeren und Abhängigen. Das war im alten China, im antiken Rom oder im europäischen Mittelalter nicht anders. Überall muß die Regierung für Ordnung sorgen, nirgendwo kommt Ordnung von selbst. Solange durch die Lüneburger Heide täglich eine einzige Postkutsche verkehrte und nur bisweilen eine Herde Heidschnucken den Weg kreuzte, so lange brauchte man keine Verkehrsvorschriften. Als Charles Lindbergh 1927 mit einem Flugzeug die Atlantik-Überquerung gelang, brauchte er keine Ausweichregeln; und solange Robinson und sein Gefährte Freitag allein auf einer einsamen Insel lebten, brauchten sie weder eine Verfassung noch einen Markt, weder Geld noch eine Bankenaufsicht. Überall aber, wo Menschen eng beieinander leben, ist eine gewisse Ordnung nötig.
Deshalb kennen wir seit den Anfängen der geschriebenen Geschichte Staat und Herrschaft. Inzwischen gilt auch in der Lüneburger Heide das staatliche Gebot, rechts zu fahren, es gibt eine staatliche Geschwindigkeitsbegrenzung und vom Staat errichtete Verkehrsampeln. Je enger Menschen zusammenleben müssen, je mehr einer auf das Verhalten des anderen angewiesen ist, desto notwendiger wird die Regulierung ihres Miteinanders. Im Laufe des 20. Jahrhunderts neigten allerdings viele Staaten zu immer stärkerer Regulierung. Diese Tendenz setzt sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts offenbar ungebremst fort. Gegenwärtig gelten in Deutschland weit über 100 000 Paragraphen, verteilt auf Tausende von Gesetzen, Rechtsverordnungen, Erlassen und dergleichen. Dazu kommt die Regulierungsflut durch die ehrgeizig auf Machtausweitung zielende Bürokratie der EU-Kommission. Entsprechend diesem wachsenden Einflußstaatlicher Behörden und Instanzen ist die Staatsquote in Deutschland von etwa 30 Prozent Mitte der fünfziger Jahre auf gegenwärtig fast 47 Prozent gestiegen.
Weil die große Mehrheit unseres Volkes und weil beide großen Volksparteien den Sozial- oder Wohlfahrtsstaat aufrechterhalten wollen, müssen wir auch für die Zukunft einen unverändert hohen Staatsanteil
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