Ausser Dienst - Eine Bilanz
Alan Greenspan über viele Jahre, die Chinesen Deng Xiaoping seit 1979, nach 1990 Zhu Rongji und über Jahrzehnte der Singapurer Regierungschef Lee Kuan Yew. Sie alle sind ihrer praktischen Vernunft gefolgt; alle haben notabene den Markt, private Unternehmer, den technischen Fortschritt und das Wachstum der Wirtschaft für selbstverständlich gehalten (im Falle der chinesischen Wirtschaftspolitiker muß allerdings hinzugefügt werden, daß sie sich, weil demokratische Hürden fehlten, politisch leichter durchsetzen konnten als ihre europäischen oder amerikanischen Kollegen).
Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren in den meisten industrialisierten Staaten Politik und Wirtschaft viel stärker ineinander verzahnt, als die ökonomischen Theorien erkennen und in Formeln und Gleichungen einfangen konnten. Ohnehin ist an vielen Universitäten weltweit die Mathematisierung der ökonomischen Wissenschaft zu weit gegangen. In der alltäglichen Wirtschafts- und Finanzpolitik spielen vielerlei externe Faktoren eine Rolle, die von den Ökonomen nicht vorhergesehen und schon gar nicht eingerechnet werden können – seien es politische Ereignisse, ökonomische Fehlentwicklungen in anderen Ländern oder Psychosen an der Börse. Weil die deutsche Volkswirtschaft sich auf das stärkste globalisiert hat, ist nicht einmal mehr das überkommene deutsche Wort Nationalökonomie zutreffend; denn wegen unserer extrem hohen Ex- und Importquoten sind wir längst auf Gedeih und Verderb ein Teil der International-Ökonomie. Man kann unsere Volkswirtschaft nur dann verstehen und sie nur dann erfolgreich beeinflussen, wenn man ihre Wechselwirkung mit den vielfältigen Faktoren und Entwicklungen der Weltwirtschaft und der Weltpolitik einbezieht. Hier aber liegt ein bisher ungelöstes Dilemma: Während es unserer politischen Klasse schwerfällt, unsere internationale Abhängigkeit zu verstehen und daraus die gebotenen Konsequenzen zu ziehen, bieten die überholten Theorien unserer Wirtschaftswissenschaften nur geringe Hilfen. In dieser Lage bleibt den handelnden Politikern oft nicht viel mehr als ihre praktische Vernunft.
Vernunft und Erfahrung sagen ihnen: Ohne wirtschaftliches Wachstum laufen wir Gefahr, daß uns die unvermeidlichen Verteilungskämpfe politisch lähmen, ohne eine hohe Beschäftigungsrate können wir die nötigen Anpassungen und Veränderungen unserer alternden Gesellschaft nicht bewältigen. Zwar wird in der Demokratie wegen der Hoffnung, wiedergewählt zu werden, zumeist nur auf höchstens vier Jahre im voraus regiert. Aber die Anpassung unserer sozialen und ökonomischen Strukturen läßt sich nur über längere Zeiträume bewältigen. Deshalb müssen wir von unseren politischen Führungspersonen eine langfristige Orientierung verlangen. Sie sollten auf die anhaltende Vitalität, auf den Arbeitswillen und auch auf den Einfallsreichtum unserer Nation vertrauen. Zugleich dürfen unsere Politiker und Parteien nicht vergessen: Eine gut geordnete Ökonomie und eine hohe Beschäftigung allein können zwar den kulturellen und politischen Zusammenhalt von Nation und Staat nicht gewährleisten. Aber eine hohe Arbeitslosigkeit und eine tiefgreifende Unzufriedenheit mit der Ökonomie können den Zusammenhalt der demokratischen Gesellschaft und des Staates untergraben.
VI
RELIGION, VERNUNFT
UND GEWISSEN
Christliche Prägungen?
Bis zum Ende des Krieges habe ich nicht wirklich gewußt, was an die Stelle des »Dritten Reiches« treten sollte. Ich wußte nur, daß ich dagegen war, nicht aber, wofür. Wie sollte es weitergehen? Ich habe meine Hoffnung für die Zeit danach auf die christlichen Kirchen gesetzt. Ich verstand mich als Christ, aber das hatte sich aufgrund äußerer Einflüsse gewissermaßen von selbst ergeben. Ich wußte nichts vom Judentum, nichts vom Islam, nichts von Konfuzius, nichts von Kant und der Aufklärung. Was ich vom Kommunismus Böses gehört hatte, habe ich zwar nicht geglaubt, aber eine Diktatur des Proletariats kam mir doch unheimlich vor. Als ich 1945 nach acht Wehrpflichtjahren nach Hause kam, wurde ich 27 Jahre alt. Ich war also ein erwachsener Mann, aber ich wußte sehr wenig; ich wußte nur: Dies alles darf nie wieder geschehen. Deshalb habe ich mich alsbald für Demokratie und soziale Gerechtigkeit engagiert. Wie man aber dorthin gelangt, das wußte ich nicht.
Meine christliche Unterweisung hat nicht im Elternhaus, sondern im Konfirmationsunterricht 1934 begonnen. Dort hatte ich die
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