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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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protestantischen Kirchen gehören endgültig der Vergangenheit an.
    Es mag sein, daß manche Kirchenleute in Deutschland den schrittweisen Niedergang des Christentums unterschätzt haben. Jedenfalls war 1945 der christliche Glaube bei weitem nicht so fest in der Seele des Volkes verankert, daß die Kirchen in der Lage gewesen wären, eine neue, moralisch fundierte Gesellschaftsordnung ins Leben zu rufen. Das hat sich bereits im Laufe der späten vierziger Jahre deutlich gezeigt und bedeutete für mich eine empfindliche Enttäuschung meiner jugendlichen Hoffnung. Auch das Stuttgarter Schuldbekenntnis 1945 wies nicht wirksam in die Zukunft: »Wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt … haben. Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden.« Tatsächlich waren für den neuen Anfang aber nicht nur die gute Absicht, sondern auch allerlei Fähigkeiten notwendig. Diese Fähigkeiten aber hatten beide Kirchen nur in kleiner Münze vorrätig.
    Statt dessen kam der Neuanfang in entscheidendem Maße zunächst von einigen erfahrenen Politikern der Weimarer Zeit, von Adenauer, Heuss, Schumacher und anderen. Die Begründung einer erstmals nicht konfessionell beschränkten christlichen Partei war insofern ein politisch-taktisches Meisterstück, als es gelang, beide Kirchen und ihren Anhang an das eigene politische Lager zu binden.
    Es waren allerdings weder die alten Politiker aus Weimarer Zeiten noch die neuen christlichen Demokraten, welche die Westdeutschen für die Demokratie gewannen. Was die Deutschen in den Anfängen der Bundesrepublik zunehmend für Freiheit und Demokratie und die Grundlagen des Rechtsstaates empfänglich machte, waren vielmehr der erstaunliche ökonomische Erfolg Ludwig Erhards und die amerikanische Marshall-Hilfe, die uns auf die Demokratie eingestimmt haben. Diese Wahrheit bedeutet keine Schande. Schon bei Karl Marx hatte man lesen können: Es ist das ökonomische Sein, welches das politische Bewußtsein bestimmt. Zwar enthält dieser Satz nur eine Teilwahrheit. Richtig bleibt aber, daß eine Demokratie gefährdet ist, wenn die Regierenden Wirtschaft und Arbeit nicht einigermaßen in Ordnung halten.
    Ludwig Erhard war in den ersten Jahren gar nicht Mitglied der christlichen Partei, er hat lange gezögert, ihr beizutreten. Ich hatte dafür Verständnis, denn die Verquickung von Christentum und Parteipolitik war mir suspekt. Zwar hatte in meinen Augen mein Parteivorsitzender Kurt Schumacher sich geirrt, als er 1950 das Konzept der Montan-Union polemisch als katholisch, klerikal und kapitalistisch disqualifizierte. Die absichtsvolle Anlehnung einer politischen Partei an die christlichen Kirchen erschien mir jedoch als ein Rückfall ins Mittelalter. Sie barg auch die Gefahr der Diffamierung von Menschen, die anderen Parteien angehörten, als Nicht-Christen, als Menschen ohne Grundwerte und ohne Moral. Nicht wenige aus dem Lager der christlichen Parteien erlagen der Versuchung, die politischen Gegner gar als Feinde des Christentums herabzusetzen – und als Kommunisten: »Alle Wege des Sozialismus führen nach Moskau.«
    Trotz all meiner Skepsis gegenüber einer ganzen Reihe christlicher Dogmen empfand ich mich auch später noch als Christ. Das Schisma zwischen Katholiken und Protestanten und ihr jahrhundertelanger theologischer Streit erschienen mir dabei vollkommen belanglos. Für mich war es wichtig, den Kontakt und das Gespräch mit erfahrenen Kirchenleuten zu pflegen, um von ihnen zu lernen; in öffentlichen Reden freilich vermied ich jede Anlehnung an die christliche Lehre. Sicherlich habe ich mehrfach gegen die letztere Regel verstoßen. 1976 habe ich in einem kleinen Buch meine im Laufe der drei Nachkriegsjahrzehnte gewonnenen Vorstellungen als Christ zusammengefaßt. Dabei hielt ich allerdings auf Abstand von spezifischen Glaubensinhalten und theologischen Grundsatzfragen. Solange ich im Amt war, habe ich nur ungern in Kirchen Vorträge gehalten, aber als Privatperson habe ich mich vielen Einladungen zu kirchlichen Gremien nicht entziehen wollen. Besonders später, in den acht Jahren zwischen dem Ende meiner Kanzlerschaft und dem Ende der DDR, habe ich fast jährlich in einer ostdeutschen Kirche oder einem kirchlichen Gremium im Osten Vorträge gehalten. Meist konnte meine Bitte erfüllt werden, mir ein Pult hinzustellen, denn ich wollte nicht wie ein Prediger des Christentums von der Kanzel herab sprechen.
    Meine Kontakte mit

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