Ausser Dienst - Eine Bilanz
wichtigsten Glaubensinhalte gelernt, aber das meiste blieb bloßer Lernstoff. Vater, Sohn und Heiliger Geist, die jungfräuliche Geburt, das leere Grab und Christi Himmelfahrt, die verschiedenen Wunder, aber auch die Geschichten aus dem Alten Testament, von Kain und Abel, von Noah und seiner Arche, von Moses am Berge Sinai – all das waren für den Fünfzehnjährigen lediglich seltsame Geschichten. Ich glaubte zwar an Gott als wirklich existent, aber seine Dreieinigkeit vermochte ich mir nicht vorzustellen. Ich konnte auch nicht glauben, daß Gott seinen Sohn auf die Erde geschickt hat, um ihn dort kreuzigen zu lassen und ihn am Ende in den Himmel aufzunehmen. Wenn Jesus der Sohn Gottes war, wieso dann nicht auch alle übrigen Menschen? Ich habe mit den anderen gemeinsam gebetet, aber die Gebete blieben mir ziemlich fremd. Nur das wunderbare Vaterunser habe ich mit innerer Überzeugung gesprochen. Allerdings verstand ich wohl: Nicht nur unser Pastor, Walter Uhsadel, meint alles sehr ernst; auch viele andere meinen es ernst, wenn sie von der Bibel als einem heiligen Buch reden.
Sieben Jahre später – unsere Fahrzeuge blieben im russischen Schlamm stecken, und ich hatte bereits die unausweichliche Niederlage und die unausweichlich bevorstehende Katastrophe Deutschlands vor Augen – eröffnete mir ein Soldat meiner Batterie, ein angehender Pastor oder Priester, mit zwei christlichen Weisheiten zum erstenmal einen wirklichen Zugang zum Christentum. Ich hatte ihm geklagt: Wir kämpfen hier, und viele müssen sterben, aber in Wahrheit hoffen wir gar nicht auf unseren Sieg, sondern vielmehr auf ein Ende des Krieges. Wir befolgen pflichtbewußt unsere Befehle, aber in Wahrheit zweifeln wir doch an der Vernunft des Führers – wo ist der Ausweg? Jener junge Theologe hat mir mit dem Römerbrief des Apostels Paulus geantwortet: »Seid untertan der Obrigkeit … denn die Obrigkeit ist von Gott.« Und im Laufe unseres mir unvergessenen Gesprächs fiel ein anderer Satz: Vergessen Sie nicht, es geschieht nichts ohne Gottes Willen. Beide Sätze haben mich an jenem Abend beruhigt.
Freilich hat die Hilfe nicht lange angehalten. Denn konnte der Krieg wirklich Gottes Wille sein? Und wieso hatte Gott den in meinen Augen größenwahnsinnigen »Führer« als Obrigkeit geduldet? Ich war mir und bin mir auch heute darüber im klaren, daß viele Menschen in ihrem christlichen Glauben Halt finden. Ich habe Gläubige zeit meines Lebens immer respektiert, gleich welcher Religion sie anhängen. Aber ebenso habe ich religiöse Toleranz immer für unerläßlich gehalten. Deshalb habe ich die christliche Mission stets als Verstoß gegen die Menschlichkeit empfunden. Wenn ein Mensch in seiner Religion Halt und Geborgenheit gefunden hat, dann hat keiner das Recht, diesen Menschen von seiner Religion abzubringen.
Wenn aber ein Christ, ein Muslim, ein Hindu oder auch ein Jude seine Religion zum Vorwand für seinen Kampf um Macht, für Eroberung und Unterwerfung nimmt oder wenn er sich einbildet, allein seine eigene Religion sei von Gott offenbart und gesegnet, und deshalb sei es seine Pflicht, sie zum Sieg über andere Religionen zu führen, dann verstößt er gegen die Würde und die Freiheit des Andersgläubigen – er ist deshalb ein böser Mitmensch. Jeder Mensch muß jedem anderen Menschen seinen Glauben und seine Religion lassen. Er muß ihm auch seinen Unglauben lassen. Die Menschheit hat religiöse Toleranz nötig, deshalb hat jeder einzelne religiöse Toleranz nötig.
Alle Religionen entstammen dem Bedürfnis des Menschen nach Orientierung an einer höheren Wahrheit. Alle heiligen Bücher sind von Menschen geschrieben. Alle religiösen Gebote, alle Dogmen, alle Traditionen und Gebräuche sind Menschenwerk. Die Deutschen bekennen sich mehrheitlich zum Christentum und zu den christlichen Kirchen. Kaum einer möchte auf Weihnachten verzichten; kaum einer möchte auf die Kirchtürme seiner Stadt verzichten, im Gegenteil: Die kriegszerstörte Dresdner Frauenkirche wurde von vielen Bürgern wieder aufgebaut, die in großer Distanz zum Christentum stehen. Trotz der seit vier Jahrhunderten fortschreitenden Aufklärung – und trotz des kommunistischen Atheismus – ist das metaphysische Bedürfnis des Menschen nach Orientierung lebendig geblieben.
Als Loki und ich mitten im Kriege heiraten wollten, haben wir eine kirchliche Trauung beschlossen. Wir waren beide dreiundzwanzig Jahre alt, die Zukunft sah düster aus. Vielleicht würden wir das
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