Ausser Dienst - Eine Bilanz
habe, was ich zuvor nicht wußte. Außerdem tauchten in diesen Jahren viele neue Fragen auf, die ich mir früher nicht hatte vorstellen können.
So wäre zum Beispiel zu meinen Amtszeiten die Frage nach einer deutschen Teilnahme an einer von den USA geführten militärischen Intervention auf dem Balkan oder gar in Afghanistan als absurd erschienen. Alle Urteilsmaßstäbe der Politik, der Vernunft und der Moral sprachen dagegen. Inzwischen ist Afghanistan zur Brutstätte eines internationalen Terrorismus geworden, der die politische Lage der Welt nachhaltig verändert. Damals erschien Afghanistan ähnlich weit entfernt wie zu Goethes Zeiten die Türkei; in noch viel weiterer Ferne lag China. Heute ist die Möglichkeit eines Zusammenstoßes weit voneinander entfernter Kulturen leider denkbar geworden. Auch im Innern unseres Landes haben sich gewaltige Veränderungen vollzogen. Vor einem Vierteljahrhundert konnte ein Arbeits- und Sozialminister voller Überzeugung verkünden: »Die Renten sind sicher!« Dabei stützte er sich auf das Gesetz und die darauf aufgebauten Formeln. Heute wissen wir, daß die damaligen Maßstäbe nicht unverändert mehr gelten können; es gibt zu wenige junge Menschen, und die Alten leben länger als früher. Weil die Welt sich ändert, sind wir veranlaßt, andere Maßstäbe anzulegen.
Ein Politiker darf sich nicht allgemeinen Stimmungen oder gar Massenpsychosen hingeben. Er muß auf seine Vernunft hören, und er muß sich der moralischen Grundwerte bewußt sein, die im Grundrechtskatalog und im Artikel 20 unseres Grundgesetzes festgeschrieben sind. Gleichwohl kann er irren und Fehler machen. Das Grundgesetz erlaubt Irrtümer, es erlaubt gute und weniger gute Politik, es erlaubt sogar eine im Ergebnis schlechte Politik. Aber aus dem fehlerhaften Urteil eines Politikers kann schwerer Schaden für viele entstehen. Wenn der Politiker seinen Irrtum oder Fehler später erkennt, sieht er sich vor die Frage gestellt, ob er seinen Irrtum eingestehen und die Wahrheit einräumen soll. In solcher Lage verhalten sich die meisten Politiker allzu menschlich, nämlich ähnlich wie die meisten Bürger auch. Allen Menschen fällt es schwer, einen Irrtum einzuräumen und die Wahrheit über sich selbst öffentlich zu machen. Für den Politiker kommt als Erschwernis hinzu, daß die öffentliche Meinung irrierweise dazu neigt, das Eingeständnis eines Fehlers als Zeichen von Schwäche zu werten, während es doch in Wahrheit Zeugnis eines aufrechten Charakters ist.
Nicht umsonst wurde die Rhetorik schon vor über zweitausend Jahren im demokratisch verfaßten Athen als eine der wichtigsten Künste des Politikers angesehen. Die Rhetorik hilft allerdings auch, eine Wahrheit zu verschleiern. Ein Politiker, der gewählt werden will, muß sich den Wählern möglichst angenehm darstellen. Wenn er ihnen seine Absichten, sein Programm oder seine bisherige Leistung darlegt, gerät er unvermeidlich in die Gefahr der Übertreibung. Viele der von Hoffnung getragenen Versprechungen wird er später nur zum Teil erfüllen können. Dieses Grundproblem begegnet uns in allen demokratisch verfaßten Staaten.
Seit meinem Ausscheiden aus der aktiven Politik habe ich mich bisweilen gefragt, ob ich mir selbst oder dem Publikum etwas vorgetäuscht habe, wenn ich auf entsprechende Fragen nach meinem Verhältnis zur Macht stets antwortete, die Stellung eines Bundeskanzlers niemals angestrebt zu haben. Ich habe auch die Ämter eines hamburgischen Senators, eines Verteidigungs- oder Finanzministers nicht von mir aus gewollt. Kaum jemand hat mir das glauben wollen. Heute, auch nach Lektüre mancher Psychologie-Bücher, bin ich mir nicht mehr so sicher. Unbewußt könnte ich diese Ämter vielleicht doch gewollt haben. Im Unterbewußtsein kommen, ähnlich wie im Traum, viele Faktoren zur Wirkung, auf die wir keinen Einfluß nehmen können. Immerhin darf ich auch heute aus Überzeugung sagen: Bewußt habe ich all diese Ämter nicht gewollt. Mein Ehrgeiz war nicht auf Ämter gerichtet, sondern auf Anerkennung – ähnlich wie ein Künstler oder ein Sportler Anerkennung durch Leistung sucht.
Bereits der Beginn meiner Laufbahn als Berufspolitiker war insofern untypisch, als ich 1953 nicht danach strebte, für den Bundestag zu kandidieren; die Kandidatur wurde mir von mehreren Seiten angetragen. Ich selbst wollte gar nicht in die Politik, sondern einem Ruf in die Geschäftsführung der Hamburger Hafen- und Lagerhaus-Gesellschaft folgen. Weil mein
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