Ausser Dienst - Eine Bilanz
einem Bundesparteitag in Köln im Frühjahr 1983 wurde dies für jedermann erkennbar. Die Sozialdemokratische Partei erwies sich als nicht mehr regierungsfähig. Herbert Wehner hatte das schon im Oktober 1982 erwartet und ausgesprochen.
Ich habe bis nach dem Tod Willy Brandts gewartet, ehe ich es einen politischen Fehler nannte,1974 im Zusammenhang mit meiner Kanzlerschaft nicht zugleich den Parteivorsitz beansprucht zu haben. Heute, abermals viele Jahre später, neige ich dazu, meine damaligen Motive – nämlich meine Loyalität zu Willy Brandt und meine Besorgnis hinsichtlich der Belastung durch das Doppelamt – als vernünftig und gewichtig anzusehen. Auch rechnete ich im Frühjahr 1974 keineswegs mit einer längeren Kanzlerschaft. Vielmehr ging ich davon aus, meine Kanzlerschaft würde durch die im Herbst 1976 anstehende Bundestagswahl beendet werden, und meine Aufgabe sei lediglich, die sozialliberale Regierung mit Anstand und Erfolg zu Ende zu führen.
Tatsächlich verlief die Entwicklung dann anders. Die sozialliberale Koalition gewann 1976 und 1980 zwei weitere Wahlen (die SPD erreichte beide Male nahezu 43 Prozent der Stimmen) und endete erst im Herbst 1982, etwas mehr als acht Jahre nach Beginn meiner Kanzlerschaft. Noch im Wahlkampf im Herbst 1980 warb die FDP mit meinem Namen auf ihren Plakaten. Bald danach begann ihr Vorsitzender Hans-Dietrich Genscher jedoch, von einer bevorstehenden »Wende« zu reden.Vor allem der Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff forcierte innerhalb der FDP die zunächst noch schwache Tendenz zu einer schwarz-gelben Koalition mit der CDU/CSU. Im Laufe des Jahres 1981 erkannte ich das immer deutlicher und glaubte, im Februar 1982 durch eine Vertrauensfrage nach Artikel 68 des Grundgesetzes die FDP auf Fortsetzung der sozialliberalen Koalition festlegen zu können. Das war ein Fehler. Denn die Abgeordneten der FDP-Fraktion sprachen mir zwar das Vertrauen aus, aber Lambsdorff und – etwas zögerlicher – Genscher setzten ihre auf Wechsel der Koalition und der Regierung gerichteten Aktivitäten unvermindert fort. Man sprach darüber insgeheim schon mit Politikern der CDU/CSU – und auch mit dem Großverleger Axel Springer, um dessen »Bild« und »Welt« für den Wechsel einzustimmen. Ich habe das bald bemerkt, aber immer noch gezögert, die Konsequenz zu ziehen und die Regierung der sozialliberalen Koalition von mir aus zu beenden und Neuwahlen herbeizuführen.
Das war abermals ein Fehler. In einem gegen den gemeinsam gewählten und nach wie vor amtierenden Kanzler gerichteten Wahlkampf der FDP wären Lambsdorff und Genscher nämlich in allergrößte Schwierigkeiten geraten, selbst eine Aufspaltung ihrer Partei wäre nicht auszuschließen gewesen. Entsprechend größer wären meine eigenen Wahlaussichten gewesen. Tatsächlich habe ich erst im September 1982 – nach einem provokanten Schriftsatz Lambsdorffs – die Konsequenz gezogen und die Entlassung der FDP-Minister und damit das Ende der Koalition beschlossen. Dabei beging ich erneut einen Fehler, indem ich Genscher fairerweise persönlich vorab informierte und ihm dadurch, ohne es zu wollen, die Gelegenheit gab, mir um eine halbe Stunde zuvorzukommen und den Austritt der FDP aus der Koalition zu verkünden.
Die sogenannte bürgerliche Rechte und die Mitte des politischen Spektrums waren mit dem Regierungswechsel zufrieden. Ein Teil der ihnen geneigten Medien verbreitete – um von der abtrünnigen FDP abzulenken – die Lesart, es sei in Wahrheit die Sozialdemokratie gewesen, die mich im Stich gelassen habe. Man kann das bisweilen auch noch heutzutage lesen. Bis in den Herbst 1982 ist das unzutreffend, denn die Bundestagsfraktion folgte meinen Argumenten und stand – mit wenigen Ausnahmen – hinter dem Kanzler. Erst im November 1983, also nach dem Ende meiner Kanzlerschaft, hat der Kölner Parteitag unter dem Einfluß nicht zuletzt von Willy Brandt, Erhard Eppler und Oskar Lafontaine sich mit großer Mehrheit erstmalig gegen den von mir verantworteten NATO-Doppelbeschluß ausgesprochen.
In diesem Zusammenhang stellt sich für mich die Frage, ob ich die Auflösungserscheinungen an dem sich verbreiternden linken Rand der Sozialdemokratie richtig bewertet habe. Ich glaube, in diesem Punkte mir kein Versäumnis vorwerfen zu müssen. Denn ich habe die Entwicklung frühzeitig erkannt, und ich habe versucht gegenzusteuern. Die Führung der Partei war jedoch nicht meine Aufgabe, sondern Aufgabe Willy Brandts. Der aber
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