Ausser Dienst - Eine Bilanz
hat die von mir kritisierte Entwicklung eher gefördert als gehindert. Ich selbst habe mich innerlich immer viel stärker für das Wohl von Staat und Nation verantwortlich gefühlt als für das Wohl meiner Partei.
Nach meinem Rücktritt schrieb ich Willy Brandt einen langen Brief, in dem ich versuchte, einen Schlußstrich unter meine Regierungszeit zu ziehen. Meine Bilanz war so formuliert, daß ich hoffen konnte, Brandt würde sie akzeptieren. Es kamen sechs oder sieben Zeilen zurück, die mir den Eindruck tiefen Beleidigtseins auszudrücken schienen. Da standen sich zwei verschiedene politische Naturelle gegenüber, die nicht mehr ins Gespräch miteinander kamen. Brandt war der Meinung, ich wäre als Kanzler längst gescheitert, hätte er den Laden nicht zusammengehalten. Ich aber dachte: Die SPD, wie sie sich unter ihm zuletzt entwickelt hatte, würde schon lange keine Regierungsverantwortung mehr tragen, wenn ich nicht Kanzler gewesen wäre. Es mag also sein, daß die langsame Abkühlung der Freundschaft auf beiderseitigen Fehlern beruhte. Als Brandt 1992 starb, war ich mir jedoch schmerzhaft bewußt, einen Freund verloren zu haben.
Wenngleich ich inzwischen der SPD seit mehr als sechzig Jahren angehöre, weil sie nach meiner ungeminderten Überzeugung bei weitem am besten meinen moralischen Wertvorstellungen entspricht, habe ich gleichwohl des öfteren Konflikte mit Teilen meiner Partei durchstehen müssen. Sie begannen im Oktober 1958, als ich, zeitgleich mit einer Reihe von Abgeordneten aller drei Fraktionen, die in den Jahren davor gegen den Willen Adenauers eine vernünftige Wehrverfassung durchgesetzt hatten, an einer Wehrübung in der im Aufbau befindlichen Bundeswehr teilnahm. Unser gemeinsames Motiv war, die Nähe des Parlamentes zur Bundeswehr zu demonstrieren. Willi Berkhan und ich verfolgten dabei außerdem den Zweck, eine Brücke zu bauen zwischen der Sozialdemokratie und den neuen deutschen Streitkräften. Das unheilvolle, antagonistische Verhältnis zwischen SPD und Reichswehr während der allzu kurzen Zeit des Weimarer Demokratie-Versuches stand uns als eindringliche Warnung vor Augen. Einige törichte linke Kollegen haben unsere Wehrübung als Ausfluß von Militarismus oder militärischem Ehrgeiz willentlich mißverstanden, deshalb wurde ich sogleich aus dem Fraktionsvorstand abgewählt. Als ich 1969 von Brandt und Wehner bedrängt wurde, das Verteidigungsministerium zu übernehmen, waren die gleichen Mißverständnisse und Diffamierungen zu erwarten, zumal SED und Stasi in Ost-Berlin mit Fleiß die Parole vom »Nachfolger Noskes« ausstreuten. Daß diese Herabsetzungen ohne wesentliche Wirkung blieben, war zu einem guten Teil dem Fraktionsvorsitzenden Wehner zu verdanken. Er hat nacheinander drei sozialdemokratischen Verteidigungsministern – Schmidt, Georg Leber und Hans Apel – die Stange gehalten. Und Willi Berkhan war später zehn Jahre lang ein allseits hochgeachteter Wehrbeauftragter des Bundestages.
Der nächste ernsthafte Konflikt mit großen Teilen meiner Partei wurde unvermeidlich, als ich das Finanzministerium und später die Kanzlerschaft übernahm. Die Erwartungen, die Willy Brandt als Kanzler geweckt hatte, waren nur zum Teil realisierbar; zu einem beträchtlichen Teil waren sie einfach nicht zu finanzieren. Als er 1974 sein Amt an mich weitergab, war inzwischen wegen der ersten Ölpreis-Krise eine weltweite Wirtschaftsrezession ausgebrochen, alle ökonomischen und sozialpolitischen Prognosen mußten zurückgeschraubt werden. Als ich deshalb in meiner ersten Regierungserklärung die absichtlich nüchternen, keineswegs mitreißenden Stichworte »Kontinuität und Konzentration« ausgab, verstanden einige Linke dies als Kurswechsel und als Preisgabe von Herzensanliegen. Die Konflikte mit linken Ideologen und auch sachliche Konflikte mit unseren nahezu unersättlichen Sozialpolitikern haben sich fortgesetzt. Dazu kamen die Forderungen der von jungen Intellektuellen propagierten »neuen sozialen Bewegungen«: vom Natur- und Umweltschutz über den Feminismus und die Emanzipation der Homosexuellen bis zur Sehnsucht der Friedensbewegung. In den meisten dieser vornehmlich aus der 68er Studentenbewegung hervorgegangenen »alternativen« Bestrebungen steckte ein richtiger, wünschenswerter Kern. Aber die Radikalität und Ausschließlichkeit, mit der die Forderungen vorgebracht wurden, drohten bedeutendere Themen und wichtigere Aufgaben von der Tagesordnung zu verdrängen. Es war für
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