Außer sich: Roman (German Edition)
gerecktem Kinn, gegeltem Haar. Sie waren nicht größer als David. Verpiss dich, Alter! Ich hoffte, David würde sich nicht wehren, ich hoffte, er würde gehorchen. David, sagte ich leise, geh, bitte! Ich weiß nicht, ob er mich hörte. Er zuckte die Schultern, drehte sich um, ging. Ich nahm Sebastian in den Arm. Okee?, fragten die Jungs. Ich nickte, ja. Danke!
Wir gingen. In die andere Richtung. Es war, als hätten die Jungs mit scharfem Messer ein Seil durchschnitten, an dem ich festgebunden gewesen war. Erst taumelte ich etwas, fing mich, fühlte mich leicht, befreit. Ich ließ Sebastians Hand keinen Augenblick mehr los. Er war seltsam still die ganze Zeit, als reiße er sich zusammen. Vielleicht war er nur müde, beduselt von den Tropfen. Mehr aus Zufall fanden wir nach Hause. Ich machte uns zu essen, stellte Musik an und zündete eine Kerze an. Ich dachte an Mutter, ob sie wohl schon im Schwarzwald angekommen war? Sebastian tauchte seinen Löffel ins Püree und, keine Spur von Appetitlosigkeit, aß wie gewohnt zu viel, zu schnell. Ich hielt seine Hand zurück, bis er eine Portion geschluckt hatte, erst danach durfte er den Löffel wieder zum Mund führen. An diesem Abend ließ er sich duschen, drehen und wenden, waschen, eincremen.
Eine ganze Weile saß ich noch bei ihm, ich hatte die Kerze mit ins Schlafzimmer genommen. Sie brannte ruhig, sie gab dem Gesicht eine gesündere Farbe, wischte über die harten Kanten, das Narbengelände schien auf wundersame Weise heil. Nur mit den Fingerspitzen fühlte ich die Krater und Schluchten deutlich. Bald schlief er ein. Später klingelte das Telefon. Niemand sprach auf den AB. Ich nahm an, es sei David. Ich rief Mutter an. Ob sie gut angekommen sei? Ja, alles bestens, sie gehe gleich zu Bett, damit sie morgen fit sei. Sie klang zuversichtlich. Ich legte auf und schaltete beide Telefone aus.
Manche Häuser, sagte Erwin, treiben mir noch immer Tränen in die Augen. Er hatte Fotos eines Sommerhauses auf dem Bildschirm. Ich wunderte mich. Erwin begeisterte sich sonst eher für monumentale Werke. Es war ein Natursteinhaus von Hillenkamp. Nie gehört, du? Ich schüttelte den Kopf. Das Haus lag in Neuseeland, in den Bergen, es war ein flacher Kubus mit horizontalen Fenstern. Halbseitig zerschnitt eine Treppe aufs Dach das Gebäude optisch in zwei Teile, in einen kürzeren und einen etwas längeren Korpus. Wohltuende Proportionen. Der Blick aus den Fenstern war atemberaubend. Ein See, auf der gegenüberliegenden Talseite bewaldete Hänge, Felsen, Berge. Als Spiegelung auch in den Fenstern. In jedem einzelnen Stein fand sich die Gesamtform des Hauses wieder. Es gab mir einen Stich, wie mir perfekte Häuser immer schon Stiche versetzt hatten. Der Wunsch, das auch zu können, das Bedürfnis, zum Schreibtisch zu gehen und sofort damit anzufangen. Eine Diashow zog über den Bildschirm. Sanft ineinander übergehende Impressionen. Interieur. Außenansicht, Aussicht, Dachterrasse, wieder Interieur, die Details, Materialien. Es war kein spektakuläres Haus, keine Landmark, es war ein seltsam stimmiges Haus, ein Haus, das man um jeden Preis selbst gebaut haben wollte.
Erwin, was siehst du mich so an? Du hast ein ganz rotes Gesicht, sagte er, bist du krank? Echt? Ich legte mir die Handflächen an die Wangen. Sie waren warm.
Hör mal. Ich hab da einen Kunden. Und sonst niemand, der das machen könnte, du weißt, wir sind alle am Bürokomplex. Außer dir. Ein Wochenendhaus in der Uckermark. Du hättest alle Freiheiten. Der Kunde hat Geld, das er auch ausgeben will, stell dir vor. Erwin drehte an seinem Ehering. Kannst es dir noch überlegen, Lührs hat sowieso erst im November Zeit.
Als ich nach Hause kam, stand David vor unserem Haus. Mit einem Blumenstrauß im Arm. Seine Haut im Gesicht war rot und schuppig. Was machst du da? Er sah zu Boden. Sorry, sagte er leise, estutmirleidwegenneulich, ich war betrunken. Darf ich mit hochkommen? David, glaub mir, es ist besser, das jetzt zu beenden, sofort. Diese Sätze kamen mir bekannt vor. Aus meiner Jugend waren dieses Sätze, ich hatte sie lange nicht mehr gebraucht. Jemanden enttäuschen. Jemanden wegschicken. Ruf nicht mehr an. Bitte.
Ich schloss die Tür auf. Kein Blick zurück.
Später öffnete ich eine Flasche Rotwein. Ich ging zu Sebastians Bücherregal und holte mir den Band
Fassaden
, ein, zwei andere Bücher und drei Nummern
Hochparterre
. Setzte mich aufs Sofa. Blätterte. Travertin, Schiefer, Granit, Holz, Glas. Sebastian hatte
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