Außer sich: Roman (German Edition)
Bevor ich weggegangen war, hatte ich vergessen, den Nachtbeutel anzustecken. Ich hatte ja nicht so lange wegbleiben wollen. Ich hatte ja gar nichts mehr gedacht, gestern Abend. Ich holte den Beutel. Vorsichtig drehte ich Sebastian um, bettete ihn auf die Seite, schob ihm ein Kissen unter den Kopf. Ich öffnete vorne die Windel. Grub nach dem Penis, zog den Stutzen aus dem Katheter, stöpselte um, damit der Urin ablaufen konnte. Nicht genug Gefälle. Es lief nur wenig, bis sich der Druck ausgeglichen hatte. Zum Glück hatte er gestern Abend nicht viel getrunken. Ich holte eine Decke und breitete sie über seinen Körper. Ich ging zum Fenster und öffnete es weit.
Ich war nicht müde. Was war denn heute noch mal für ein Tag, ah, Sonntag. Also Sonntag. Ein Windstoß wirbelte Papiere durcheinander, uralte Tankquittungen, nicht geöffnete Briefe.
Heute war der letzte Tag unserer Ferien.
Die Dinge verschoben sich.
Es war gut so. Es war, als sei ich nach Hause gekommen. Als sei dies der Ort, an dem ich zu Hause sein wollte. Hier. Ich bewachte seinen Schlaf. Hatte ich je einen anderen Sebastian gekannt? Würde er plötzlich aufwachen und mich ansehen. Mich ansehen und meinen Namen sagen. Katja! Richtige Worte sprechen, richtige Sätze, verstünde ich nicht, was er sagen wollte. Wer bist du, würde ich fragen, was meinst du? Er sähe aus wie Sebastian früher ausgesehen hat, aber ich erinnerte mich nicht. Er würde riechen wie Sebastian früher gerochen hat, aber mit dem Geruch könnte ich nichs anfangen. Ich würde Sebastian vermissen und nicht wissen, wo ich ihn suchen sollte. Nein, wie er hier schlief, friedlich unter der weichen, warmen Decke, war alles in Ordnung.
Ich schloss das Fenster. Draußen, im Glas auf dem Sims, steckte nur noch der Stiel der Rose, die trockenen Blätter waren längst abgefallen und vom Wind davongetragen worden. Sebastian hob den Kopf. Hey, bist du wach? Ich half ihm in den Sessel. Legte ihm das Kettchen in die Hand. Der Urin lief in den Beutel. Ich war froh, dass der Urin endlich aus dem Körper in den Beutel lief. Die Flüssigkeit wand sich vielarmig entlang der Falten, füllte allmählich den unteren Teil des Sacks, stieg höher und höher. Vierhundert Milliliter, weißlich, trübe. Nicht blutig. Ich ging ins Bad, um einen neuen Beutel zu holen, da klingelte das Telefon. Halb erwartete ich Mutters Stimme. Aber nach dem Piep sagte eine Männerstimme, hier Thomas, Katja, wohnst du noch da? Bevor ich abnehmen konnte, war die Verbindung unterbrochen. Thomas!
Der
Thomas? Das war doch nicht möglich! So lange hatte ich nichts von ihm gehört. Ich hörte das Band ab. Die Stimme klang ganz anders, als ich Thomas’ Stimme in Erinnerung hatte. Kantiger, rauer. Früher hatte er für einen Capitano eine zu hohe und auch zu weiche Stimme gehabt.
Ich löste den vollen Urinbeutel vom Katheter und stöpselte den frischen an.
Montagmittag beim Italiener waren alle aufgeregt. Es gab Probleme auf einer Baustelle, die Arbeiten verzögerten sich, alles würde teurer werden. Erwin trug eine Krawatte, bedruckt mit kleinen Boxhandschuhen. Du machst eine neue Aufstellung der Kosten, sagte Erwin zu Rolando. Rolando maulte. Schöne Krawatte, sagte die neue Praktikantin zu Erwin. Dreimal Saltimbocca, einmal Quattro Stagioni. Wein? Wer trinkt Wein?
Du musst dir was einfallen lassen, Erwin. Was kann ich dafür, wenn die Tonscherben finden. So was müsste man eigentlich immer schon in die Kalkulation nehmen, jedenfalls in Berlin. Bomben oder Scherben, Geschichte halt, sagte Rolando. Kinder, sagte Erwin, lasst uns die Nerven behalten jetzt. Wie lange wird es dauern? Keine Ahnung. Die können das doch auch nicht genau sagen. Keiner kann das.
Erwin saß neben mir. Katja? Wie war die Besprechung heut früh? Ich war vom Heim direkt zum Kunden gefahren. Zu Lührs. Er hatte zwischen zwei Meetings etwas Zeit gehabt. In diese Lücke hatte er mich gequetscht. Wir saßen im Konferenzraum seiner Agentur in Mitte. Er hatte uns einen Kaffee geholt, auf dem Tisch stand eine angebrochene Packung Schokotäfelchen. Ein schöner Raum in Hellblau und Grün. Zunächst saßen wir schweigend. Er müsse sich erst kurz sammeln, dieser Wahnsinn schon am frühen Morgen. Dann nahm er eine Mappe mit Fotos aus der Tasche; großformatige, blassfarbene Porträts der Landschaft, in der das Haus einmal stehen sollte. Am Rande eines Wäldchens, in einer Senke mit Blick auf eine offene, sanft abfallende, weit gestaffelte Landschaft. Dahinter alte
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