Außer sich: Roman (German Edition)
vollkommene Absenz von Schönheit zu ertragen, bedarf es eines Ankers. Straßen und Autos und Industrie und Hochspannungsleitungen. Zugemüllte, öldurchtränkte Fetzen pechschwarzer Erde. Was mir früher gefallen hatte. Und Sebastian auch. Ja, uns hatte das gefallen. Wir fanden es unglaublich aufregend, die SehensUNwürdigkeiten einer Stadt zu entdecken, zu erforschen, die Ränder, die vergessenen Orte. Früher, ja. Man braucht, um diese Orte anregend zu finden, jemanden, der einen an der Hand hält. Der einen beschützt. Der einen rettet, wenn es nötig wird. So jemanden. Man braucht jemanden, der einem sagt, dass man früher oder später wieder in andere Gegenden kommt. Wir hatten uns das immer gegenseitig versichert, mal wollte es der eine nicht ganz glauben, mal der andere nicht. Wir streiften weiter durch die Stadt und plötzlich standen wir am Ufer der Spree oder im Tiergarten vor einem monumentalen Reiterstandbild. Sebastian wollte unbedingt hinaufklettern und sich hinter einen der Kurfürsten aufs Pferd setzen. Bist du bescheuert, sagte ich, das ist viel zu hoch! Mach mir die Leiter, lachte er, und ich machte ihm die Leiter. Aber die Höhe von Sockel bis Sattel überstieg seine Möglichkeiten bei Weitem und so half ich ihm wieder herunter.
Ein Auto fuhr vorbei und spritzte mich nass. Wasser hatte sich in den Spurrillen gesammelt. Ein gelbes Schild zeigte: links Tiergarten, geradeaus Wedding, Autobahn. Im Osten wurde es schon langsam Tag.
Bastian, aufstehen …!
Er öffnet schelmisch nur ein Auge, blitzt mich an.
Er packt mich, ich falle, ins Bett zurück.
Wir liegen beide auf dem Rücken und strecken die Hände mit gespreizten Fingern gegen die Decke.
Wir legen die Hände aufeinander und vergleichen die Länge unserer Finger.
Sebastian hat natürlich die längeren Finger, ich natürlich die dünneren.
Wir kichern wegen nichts.
Wir machen das Gleiche mit Füßen und Zehen. Sebastian kann seine Zehen ganz weit voneinander abspreizen.
Resultat: dito.
Er fragt: Hasst du mich eigentlich manchmal?
Klar. Du mich?
Jetzt sei mal ernst.
Bin ich ja. Total ernst.
Prusten, Lachen.
Hör auf. Ich muss dir was sagen.
Ja, was denn? Ich höre auf zu lachen. Plötzlich.
Ich liebe dich nicht mehr.
Hä?
Er liebt mich nicht mehr. Was soll das jetzt?
Er will ausziehen. Mich verlassen.
Aus heiterem Himmel?
Jetzt sag bloß, du hast nichts gemerkt.
Was soll ich gemerkt haben?
Was?
Was wäre, wenn. Ich nicht gemerkt hätte, dass unser gemeinsamer Weg im Laufe der Jahre in unzugängliches Gelände geführt hatte. In einen schmalen, steinigen Pfad mündete, der nur noch Platz für einen von uns bot.
Würde es alles leichter machen jetzt?
Ich musste lachen. Mitten auf der Straße eine Frau, die laut lacht.
Mein Gott. Ich muss schon sagen. Diese Tropfen sind Teufelszeug. Linker Hand wurde eine Tankstelle neu eröffnet. Hostessen in grünen Kostümen standen herum. Ich betrat den Shop und bestellte einen Kaffee. Aber ich hatte kein Geld dabei. Die Verkäuferin gab mir den Kaffee trotzdem. Eine der Hostessen trat zu mir und gab mir ein Täfelchen Schokolade und eine Karte. Sie reichte mir einen Stift. Wellness-Wochenende zu gewinnen. Für zwei Personen. Wahrscheinlich bekam sie Provision für jede ausgefüllte Karte. Ihr zuliebe füllte ich die Karte aus. Sie gab mir zum Dank noch fünf Täfelchen Schokolade. Auf die Täfelchen war das Logo der Tankstellenkette geprägt. Ich erwartete, dass sie nach Benzin schmeckten. Es waren meist junge Türken oder Araber, die frühmorgens zum Tanken kamen.
Draußen streunte ein herrenloser Hund herum. Er pinkelte an eine der Zapfsäulen und trottete anschließend zum Restmülleimer. Leicht hob er sich auf die hinteren Pfoten und setzte die Vorderläufe graziös auf den Rand des Mülleimers. Die schmale lange Schnauze schob sich bis zu den Augen in die Öffnung. Er bekam mit den Zähnen ein Zipfelchen Papier zu fassen, zog es heraus.
Du musst nach Hause, fiel mir ein. Sofort nach Hause. Nirgendwo anders will ich sein jetzt und in Zukunft als zu Hause bei Sebastian! Schon begann ich zu gehen, zu laufen. Ich lief hinaus auf die Straße, rannte, aber meine Füße trugen mich nicht schnell genug. Ich fuchtelte einem Taxi entgegen.
Sebastian lag auf dem Boden neben dem Sessel, auf dem Bauch. Ich kniete mich hin. Zögerte, ihn anzufassen. Als könnte ich mit meinen Händen etwas zerbrechen. Er schlief. Es stank nur ein bisschen, er hatte sich die Windel diesmal nicht ausgezogen.
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