Aussicht auf Sternschnuppen
die Karte in ihrer Hand. Wie dämlich! Ich konnte ihr überhaupt nicht weismachen, dass sie im falschen Zimmer stand. Aber meine offensive Taktik schien aufzugehen – zumindest für einen Moment –, denn die vorher noch so angsterfüllte Miene der Frau wurde zu einem einzigen Fragezeichen.
„Verzeihen Sie“, sagte sie mit unsicherer Stimme. „Ich muss mich wohl in der Tür geirrt haben.“
Sie verließ rückwärts das Zimmer, die Hände beschwichtigend erhoben. Das genügte. Ich knallte ihr die Tür vor der Nase zu und schwang mich über das Fensterbrett. Dann hörte ich Geschrei. Wahrscheinlich war der Frau die Karte in ihrer Hand eingefallen oder sie hatte einen Blick auf die Zimmernummer geworfen. Auf jeden Fall schien sie nun zu wissen, dass sie sich nicht im falschen Zimmer befunden hatte.
So schnell ich konnte, kletterte ich über das Fensterbrett auf das Baugerüst und sprang der Einfachheit halber direkt herunter. Keinen Moment zu spät, denn aus dem Zimmer wurden Stimmen laut und als ich nach oben schaute, blickte ich in das runde Gesicht des Inders. Ich schnappte meine Tasche, raste vorbei am Hotel Guilietta e Romeo weiter in die düstere Straße hinein und bog an deren Ende nach links in eine enge Gasse ab, die laut einem Wegweiser zum Haus der Julia führen sollte, doch zunächst nur in eine lebhafte Fußgängerzone mündete. Schwer atmend blieb ich stehen und drehte mich um. Mist! Der dicke Inder war mir auf den Fersen! Wie war er nur so schnell die Treppe heruntergekommen? Ich raste weiter. Rechts? Links? Ich entschied mich für geradeaus, durchquerte eine Passage und steuerte geradewegs auf einen Innenhof zu, der von einem schreiend türkisfarbenen Pferd beherrscht wurde und in dem sich mehreren Galerien befanden. Schon befürchtete ich, in einer Sackgasse gelandet zu sein, doch glücklicherweise führte ein Tor auf der linken Seite wieder hinaus. Aber auch mein Verfolger musste von diesem Fluchtweg gewusst haben, denn ich kam zeitgleich mit ihm in der Fußgängerzone an und konnte ihm gerade noch ausweichen, um unter einem Balkon durchzurasen, von dem sich meterlange Efeustränge herunterschlängelten. Durch einen kleinen Tunnel links von mir wollte ich gerade zurück in die Fußgängerzone sprinten, um im Menschengewühl unterzutauchen, als ich mich in den Armen eines dunkelhäutigen Mannes wiederfand. Schnell entschuldigte ich mich und versuchte weiterzulaufen, als ich an dessen Umklammerungsgriff merkte, dass ein Verfolger Nummer 2 im Spiel war. Unsanft stieß er mich mit dem Rücken gegen eine Wand, als auch schon schwer atmend Verfolger Nummer 1 auf der Bildfläche erschien und kurz darauf ein Carabinieri.
Das Municipale Policia di Verona lag in einem kasernenartigen Innenhof auf der anderen Seite des Adige und sah wirklich furchteinflößend aus.
Nachdem der Polizeiwagen eine automatische Schranke passiert hatte, fuhr er bis zu einem schäbig wirkenden einstöckigen Haus vor, dessen Eingangstür mit einem rostigen Gitter versperrt war. Der Carabiniere rief etwas in ein geöffnetes Fenster rechts der Tür und ein Polizist mit gewaltigem Schnauzbart und einer goldenen Kette kam und öffnete das Tor.
Glücklicherweise wirkte die Polizeidirektion von innen weitaus unspektakulärer als von außen. Wäre ich nicht in Handschellen hineingeführt worden, hätte ich es für ein normales Bürogebäude halten können. Zwei Schreibtische standen darin, über und über mit Papieren bedeckt, und die Wände waren mit bunten Bildern und Kinderfotografien geschmückt. Der Polizist deutete mir an, auf einem Stuhl an einem der Schreibtische Platz zu nehmen.
Die Szene, die sich bei meiner Verhaftung abgespielt hatte, trieb mir immer noch den Schweiß auf die Stirn. Man hätte meinen können, ich hätte auf offener Straße mit einem Maschinengewehr ziellos Passanten abgeballert, so hatte mich der Streifenpolizist in die Mangel genommen. Wie James Bond war er mit gezückter Pistole aus dem Wagen gesprungen und hatte mir Handschellen angelegt, während der dicke Inder, der auf einmal gar nicht mehr so freundlich wirkte, so wütend auf mich einschimpfte, dass ich befürchtete, mir gleich eine Ohrfeige einzufangen. War all das dem Faible der Italiener für dramatische Szenen zu verdanken oder hatte ich tatsächlich so gemeingefährlich ausgesehen?
In dem Polizeibüro schien ich auf jeden Fall weitaus harmloser zu wirken, denn der Polizist mit der Goldkette nahm mir sofort die Handschellen ab und setzte
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