Australien 01 - Wo der Wind singt
gespannte Stille im Raum auszubreiten begann, legte sie ihre Hände in den Schoß und versuchte, sich mit aller Macht zu beherrschen. Sie bemühte sich sehr darum, vor ihrem Sohn zu verbergen, wie schockiert sie war. Sie schluckte, und versuchte sich dabei verzweifelt in Erinnerung zu rufen, ob sie das Kind schon einmal gesehen hatte. Sie sah Kate vor sich. Das intelligente, geistreiche und hübsche dunkelhaarige Mädchen, das in ihrer Küche gesessen und sie beraten hatte. Alice begann am ganzen Körper zu zittern. Ihr Sohn hatte also ein Kind in die Welt gesetzt! Er musste damals noch sehr jung gewesen sein. Kates Kind war doch schon drei, wenn nicht sogar schon vier Jahre alt.
»Es tut mir so leid«, sagte Nick. »Ich weiß, dass das für dich ein großer Schock ist.« Er stand auf und legte den Arm um sie, so als könne er sie dadurch dazu bewegen, ihn zu verstehen.
Als Alice seinen frischen Geruch einatmete und seine Wärme spürte, begann sich das, was er gerade gesagt hatte, bei ihr zu setzen. Ein Kind, dachte sie. Ein kleines Mädchen, das zu ihrem Sohn gehörte. Wenn sie es wollte, konnten ihre nächsten Worte freundlich und herzlich sein. Sie konnte sie so wählen, dass sie ein Segen
waren, ganz egal, was auch geschehen war. Alice spürte, wie sie ruhiger wurde. Ihr Körper entspannte sich. Sie würde auch das durchstehen.
Nick trat einen Schritt zurück und hoffte dabei, im Gesicht seiner Mutter so etwas wie Vergebung zu finden. Er forschte in ihren glänzenden Augen. Sie lächelte ihn freundlich an.
»Ist das alles?«, fragte sie Nick, nahm seine Hand und hielt sie fest. »Davon geht doch die Welt nicht unter, mein Junge.« Sie legte eine ihrer Handflächen auf sein Gesicht und kämpfte dabei gegen ihre Tränen an.
Als Nick wenig später das Zimmer seines Vaters betrat, hatte er das Gefühl, in der Höhle eines sterbenden Tieres zu stehen. Ein übler Geruch hing im Zimmer. Sein Vater lag zusammengekrümmt unter der Bettdecke. Nick konnte nicht sagen, ob er wach war oder schlief.
»Dad?«, fragte er leise. Er warf seiner Mutter, die im Flur stand, einen kurzen Blick zu. Sie winkte ihm aufmunternd zu, wobei sie noch immer ein zerknülltes Taschentuch in der Hand hielt. »Da ist etwas, das ich dir sagen muss«, sagte Nick. Keine Antwort. Nick fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen und verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Er schob die Hände in die Hosentaschen, zog sie wieder heraus, rieb die Handflächen aneinander. Sie fühlten sich trocken und gleichzeitig irgendwie feucht an.
In den vergangenen Wochen hatten ihm die Worte auf der Zunge gelegen. Aber er hatte sie noch kein einziges Mal ausgesprochen. Weder gegenüber seiner Mutter noch gegenüber seinem Vater, obwohl es ihm ein dringendes Bedürfnis gewesen war, ihnen zu sagen, dass er eine kleine Tochter hatte. Nachts hatte er sich oft vorgestellt, wie sich das Leben seines Vaters verändern könnte, wenn er wüsste, dass er ein Enkelkind hatte. Dann nämlich hätte er etwas, was ihn beschäftigen und von seinen Schmerzen ablenken könnte. Wäre er böse auf ihn? Würde er sich freuen? Würde er sich für ihn schämen? Oder wäre es ihm vielleicht peinlich? Nick konnte es nicht sagen. Er war ja selbst kaum in der Lage, das Ganze zu verstehen.
»Dad?« Er drehte sich zu Alice um und formte lautlos mit den Lippen: »Er schläft.« Sie bedeutete ihm mit einem Wink, dass er aus dem Zimmer kommen sollte.
»Dann also am Sonntag«, sagte sie, rückte ihm die Fliege zurecht und wischte noch einmal mit der Hand über die Schultern seiner Smokingjacke. »Wenn du am Sonntag nach Hause kommst, kannst du es ihm sagen.«
Nick wartete vor dem Schwesternheim auf Felicity, die jetzt wie ein Mannequin auf dem Laufsteg den Weg entlang auf seinen Pick-up zuging. Ihr Kleid schimmerte silbern wie ein Fisch im Wasser, dazu trug sie Riemchensandalen mit hohen Absätzen. Die Nachmittagssonne spiegelte sich auf den Pailletten ihres Kleides und ließ winzige Lichtreflexe durch den Garten tanzen. Nick musste blinzeln, als er sie ansah. Schmale Träger umschmeichelten ihre blassen Schultern und ihre blonden Haare waren elegant nach oben gesteckt. An ihren Ohrläppchen hingen lange Ohrringe mit glitzernden Strasssteinen. Dazu trug sie eine große, schwarze, mit Ziermünzen bestickte Seidentasche über ihrer Schulter.
Nick, der mit verschränkten Armen und an den Knöcheln überkreuzten Beinen an seinem Pick-up lehnte, konnte sich nicht dazu
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