Australien 01 - Wo der Wind singt
sie Angst davor, ganz allein dazustehen. Ganz allein mit der Verantwortung für ein kleines Kind und ohne Job. Sie war es leid, sich ständig zu fragen, wie ihr Leben wohl aussehen würde, wenn sie wieder nach Hause zurückging.
Sie seufzte.
»Außerdem brauche ich dich hier unten auch, Kate«, sagte Will. »Es ist an der Zeit, dass wir diese Idee mit dem Saatgut endlich in die Tat umsetzen. Und dazu brauche ich dich, sonst kann ich damit nicht anfangen. Also, komm nach Hause. Bitte.« Er hielt inne. »Ich würde auch gern an Nells Leben teilhaben. Du hast sie jetzt schon viel zu lange ganz allein für dich gehabt! Bitte, komm nach Hause.«
»Ich denke darüber nach«, war jedoch alles, was sie ihm zugestand, bevor sie auflegte. Während sich die Neuigkeit von ihrer »Versetzung« wie ein Lauffeuer im Büro verbreitete, saß Kate da und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Sollte sie das wirklich tun? Konnte sie überhaupt noch nach Hause zurückkehren?
Sie erinnerte sich an das letzte Mal, als sie Will gesehen hatte. Da hatte er seinen Kopf geradezu ängstlich durch die Tür der Entbindungsstation gesteckt. Er hatte dabei einen blau-silbernen Luftballon in der Hand gehalten, auf dem »Hurra, ein Junge!« gestanden hatte.
»Tut mir leid«, hatte er gesagt und dabei mit dem Kopf in Richtung der mit einer rosa Decke eingewickelten Nellie genickt, die neben ihrem Bett in einem Kinderbettchen aus Plexiglas lag und schlief. Er hatte Kate den Ballon überreicht. »Im Klinik-Shop gab es nur noch diesen einzigen. In letzter Zeit scheint es hier einen ziemlichen Mädchenboom gegeben zu haben.« Dann hatte er mit ernsterer Miene hinzugefügt: »Tante Maureen hat mich angerufen und mir gesagt, dass die Kleine da ist. Wie geht es dir, Schwesterherz?«
Kate hatte zu weinen begonnen. Will war in vieler Hinsicht genau wie ihr Vater. So vorsichtig, so überlegt. Und trotzdem war er jetzt hier. Er hatte alles stehen und liegen lassen, war von Hobart nach Sydney geflogen und war dann mit dem Zug den weiten Weg nach
Orange gefahren, nur um sie zu sehen. Alles an ihm hatte sie an zu Hause erinnert. Als sie ihn an sich gedrückt hatte, hatte seine Jacke den salzigen Geruch des Meeres und das schwache, erdige Aroma des alten Scherstalls aus Spaltholz verströmt. Kate hatte die Augen geschlossen. Wenn Will von der Geburt des Babys wusste, dann wusste es auch ihr Dad. Aber warum war er dann nicht mitgekommen? Oder hatte wenigstens angerufen? Will hatte instinktiv gespürt, wie sehr sie das kränkte.
»Dad konnte nicht weg. Er muss sich um die Farm kümmern. Ich soll dir aber seine besten Glückwünsche ausrichten.«
Von der Geburt völlig traumatisiert, hatte Kate, deren Hormone noch immer verrücktspielten, daraufhin noch heftiger zu weinen begonnen. Hatte ihr Vater das wirklich gesagt? Sie schämte sich so sehr. Schämte sich, dass Will sie mit einem Baby sah. Schämte sich, dass ihr Vater wusste, dass sie jetzt ein Kind hatte.
»He, he«, hatte Will sie beruhigt, während er sie fest in den Armen gehalten hatte. »Das ist so ein schönes Baby. Es gibt also überhaupt keinen Grund zu weinen.«
Es gibt sehr wohl Gründe, hatte Kate gedacht. Sie war gerade einmal zwanzig und hatte schon ein Baby! Und ihre Mutter war tot. Wie würde ihr Leben von nun an aussehen? Will hatte sie auf Armeslänge von sich gehalten.
»Hat es wehgetan?«, hatte er schließlich schüchtern gefragt. Kate hatte die Augen verdreht.
»Wehgetan? Und wie! Die Sache mit der Geburt ist eine verdammte Verschwörung. Die Frauen, die schon Kinder gekriegt haben, lügen dich einfach an. Als ich schwanger war, sagten sie: ›Wenn das Baby erst einmal da ist, hast du die ganzen Schmerzen sofort vergessen.‹ Blödsinn! Diese Schmerzen werde ich niemals vergessen. Niemals. Sei bloß froh, dass du ein Mann bist.«
Als Kate mit völlig verkrampften Muskeln im Krankenhaus angekommen war, hatte sie sich sehr bemüht, die freundlichen Anweisungen der Hebammen zu befolgen, die ihr dabei halfen, sich auf dem großen Doppelbett hin und her zu bewegen. Das Bett war dafür ausgelegt,
dass die Frauen und ihre Partner die »Freude« der Geburt gemeinsam erleben konnten. Als die Wehen immer schlimmer wurden, schien das Zimmer stetig kleiner zu werden, bis Kate nur noch das Bett wahrnahm. Die glatt gezogenen blauen Laken, die immer mehr verknitterten, und die dicken Kissen, die sich mit ihrem Schweiß vollsaugten, während der Schmerz in heftigen Wellen durch sie hindurchfuhr,
Weitere Kostenlose Bücher