Australien 01 - Wo der Wind singt
schickte ihr und Nell eifrig Geburtstagsgeschenke. Sie mailte ihr regelmäßig Fotos der Zwillinge und berichtete Neuigkeiten über jeden Meilenstein in ihrer Entwicklung – wann sie zum ersten Mal gelächelt hatten, sich zum ersten Mal umgedreht, zum ersten Mal feste Nahrung zu sich genommen hatten. Sie unterschrieb ihre E-Mails stets mit »Ich vermisse dich« und fügte dann zig Umarmungen und Küsse hinzu. Kate hatte ihr immer geantwortet. Ihre Mails waren jedoch nie besonders ausführlich gewesen, und was ihr Leben mit Nell anging, so waren sie auch niemals ehrlich gewesen.
Janie schien in ihrer Mutterschaft voll und ganz aufzugehen. Wenn sie sich jetzt mit ihrer Freundin verglich, kam sich Kate wie eine Versagerin vor. Aber wenn sie nach Tasmanien zurückging, konnte Janie
ihr vielleicht dabei helfen, eine richtige Mutter zu werden, eine Mutter, wie Nell sie brauchte.
Sie rief ihre E-Mails auf. Sie würde Janie schreiben und sie fragen, was sie tun sollte. Als sie dann jedoch zu tippen begann, wurde sie von Emotionen überwältigt. Die Sätze auf dem Bildschirm kamen ihr wirr und völlig unverständlich vor. Sie schrieb, wie verloren sie sich fühlte. Dass sie eine schlechte Mutter sei, und eine unzuverlässige Freundin dazu. Dass sie, wenn es um Männer ging, sich nicht mehr unter Kontrolle hatte und dass sie bei ihnen etwas zu finden hoffte, ohne zu wissen, wonach sie überhaupt suchte. Als sie dann eine Seite geschrieben hatte und ihre melodramatischen Worte noch einmal durchlas, fand sie das Ganze ziemlich peinlich und löschte deshalb die gesamte Seite. Nein, Janie brauchte von alledem nichts zu erfahren.
Kate dachte an die Zeit zurück, als sie und Janie Freundinnen geworden waren. Janie hatte gerade die Schule geschmissen und begonnen, in der Tankstelle und kleinen Werkstatt ihrer Eltern zu arbeiten. Sie war es gewesen, die den Laden aufgesperrt hatte, wenn ihre Mutter wieder einmal zu betrunken oder zu high gewesen war, um aus dem Bett zu kommen. Sie hatte sich dann nichts sehnlicher gewünscht, als dass ihr Dad, der als Fernfahrer gearbeitet hatte, von seiner Tour zurückkommen, und ihr bei der Buchhaltung helfen würde. Sie hatte seine Rückkehr jedoch gleichzeitig auch immer gefürchtet, weil er dann in seiner Wut vielleicht wieder einmal mit den Fäusten auf ihre Mutter losgehen würde.
Janie hatte immer hinter dem chaotischen Ladentisch, auf dem sich Schokoriegel, Ölfilter, Zündkerzen, Keilriemen und Chips, deren Mindesthaltbarkeitsdatum schon längst abgelaufen war, stapelten, gesessen. Neben ihren Füßen hatte ein Heizlüfter gestanden, sie hatte so gut wie immer einen Bonbon im Mund, während sie im neuesten Who-Magazin die traumhaften Brautkleider der Hollywood-Stars studiert hatte.
Kate, die damals gerade den Führerschein machte, war mit ihrem Dad immer genau vor die Zapfsäule gefahren, wobei die Räder ihres Pick-ups eine Glocke im Laden laut klingeln ließen. Während ihr
Dad den Tank des Pick-ups mit Diesel gefüllt hatte, war Kate immer in den Laden gegangen und hatte eine Rolle Gerstenzucker für ihre Mutter gekauft. Glukose, damit ihr Körper noch ein klein bisschen länger durchhielt.
»Wie geht’s deiner Mum?«, pflegte Janie zu fragen.
»Nicht besonders«, hatte Kate dann stets geantwortet. »Und deiner? «
»Sie ist zu nichts zu gebrauchen«, hatte Janies Antwort dann stets gelautet.
»Ich wünschte, meine würde bald wieder gesund.«
»Ich wünschte, meine würde bald sterben.«
Dann hatten sie immer zusammen gelacht und dabei gespürt, wie zwischen ihnen eine tiefe Freundschaft zu wachsen begann. Sie mussten beide ein Leben wie Erwachsene führen, waren deshalb beide schon bald von ihren Altersgenossen, die sich wegen Pickel, Schamhaaren und Hausaufgaben Sorgen machten, isoliert gewesen. Janie und Kate, sie beide waren in tragische Umstände verstrickt gewesen, die sie älter machten, als sie es den Jahren nach waren. Das war das Fundament gewesen, auf dem ihre Freundschaft gewachsen war; zwei Mädchen, die einander vertrauten. Die sich gegenseitig beflügelten. Zwei Mädchen, die sonst nichts miteinander zu tun gehabt hätten.
Kate liebte Janies Direktheit und den bitteren Humor, mit dem sie sich über ihre Familie lustig machte, sie sah und schätzte jedoch auch Janies Freundlichkeit. Janie wiederum liebte es, dass Kate sie von Zeit zu Zeit aus ihrer trostlosen, benzingeschwängerten Welt holte und mit ihr durch die wogende Hügellandschaft von Bronty ritt. Sie
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