Australien 02 - Der Sternenleser
Astronomen betrachten, sondern mit den Augen eines Menschen, der nicht einschlafen kann. Er tastete sich in Richtung Tisch vor, holte die Brandyflasche vom Regal, goss sich fast nur nach Gehör etwas ein und nahm das Glas mit hinaus.
Draußen war alles in tiefes Schwarz gehüllt. Nur der Hafen hatte eine andere, veränderliche Schwärze. Allein ein Astronom, der wusste, wohin man blicken musste, konnte den schwachen Schein am Horizont wahrnehmen. Gewohnt, im Dunkeln zu sitzen, bis an einer bestimmten Stelle am Himmel ein Licht erschien, wartete Rooke. Der Brandy wärmte ihn, minderwertiger Brandy von herbem Geschmack, aber etwas, was er sich nicht oft genehmigte.
Anfangs war vom Mond nur ein Lichtstreifen am Horizont zu sehen. Rooke sah zu, wie der Mond langsam höher stieg, bis von der runden Scheibe nur noch ein kleiner Teil fehlte. Am Horizont dehnte er sich, schien sich flachzumachen und an die Erde zu klammern, als wolle er nicht aufsteigen.
Es war lediglich eine atmosphärische Erscheinung, und eigentlich sehr verwunderlich, dass der menschliche Geist so konstruiert war, dieses Phänomen als etwas Schönes zu empfinden. Die Ursache dieser Erscheinung zu kennen, machte den Anblick nur noch schöner. Während ihm Moskitos um die Ohren surrten, wartete Rooke gebannt auf den Moment, in dem die gedehnte flüssige Masse aufbrechen würde und den Mond allein durch den indigofarbenen Weltraum segeln ließ.
Tagaran hatte ihn an diesem Tag wieder gelobt: kamara budyeri karaga , hatte sie gesagt, kamara spricht gut . Es gefiel ihm, kamara genannt zu werden.
Wenn Rooke etwas nicht gleich begriff, warf sie ihm von der Seite einen ganz bestimmten verschmitzten Blick zu. Bis auf seine Schwester war Tagaran auf der ganzen Welt der einzige Mensch, der ihm zutraute, über sich selbst lachen zu können.
Vielleicht war das so, wenn man eigene Kinder hatte und mit ihnen in einer Atmosphäre unbeschwerter Ausgelassenheit lebte. Rooke ging davon aus, dass er, wie die meisten Männer, irgendwann heiraten würde. Wenn es dazu käme und er Kinder hätte – was er sich im Augenblick noch nicht vorstellen konnte –, würde er sich hieran erinnern. Rooke versuchte sich auszumalen, wie er seinen Kindern diese Geschichte erzählte. Und einmal haben die beiden Eingeborenenkinder in meiner Hütte übernachtet .
Rooke dachte, es gab vielleicht gar keine Worte für das, was zwischen ihm und Tagaran geschah. Genauso wie die Sprache der Cadigal , die er mühsam Wort für halb verstandenes Wort lernte, lag die Sprache der Gefühle, die er für sie empfand, außerhalb seiner geistigen Fassungskraft. Er musste blind und vertrauensvoll alles Weitere auf sich zukommen lassen.
Vielleicht lag es am Brandy, dass Rooke, während er dort draußen im bleichen Mondlicht saß, ein euphorisches Glücksgefühl empfand.
✶
V on Rose Hill schickte Silk Nachrichten an Rooke, in denen zu lesen stand, dass die Kornkammer der Kolonie sogar noch ereignisloser und stumpfsinniger sei, als er befürchtet habe. Das Einzige, was ihm diese Wochen eingebracht hätten, seien Kenntnisse über den Ackerbau, auf die er gerne hätte verzichten können. Wenn der Gouverneur ihn nicht bald wieder zurückrufe, schrieb Silk, bleibe ihm nichts anderes übrig, als sich ein schmerzloses, aber arbeitsunfähig machendes Gebrechen zuzuziehen, um in die Zivilisation von Sydney Cove zurückkehren zu können.
In Silks Händen verwandelte sich sogar nicht vorhandenes Material in Erzählstoff. Bei der Lektüre dieser Briefe fragte sich Rooke, ob Silk für seine Geschichte wohl eine Abschrift davon gemacht hatte. Oder erwartete er etwa, dass Rooke seine Schreiben aufbewahrte?
Er hatte den Boten gerade fortgeschickt, da traf ein weiterer Bote mit der Nachricht ein, Rooke solle zum Exerzierplatz kommen. Ein Sträfling war dabei erwischt worden, wie er im Garten des Gouverneurs Kartoffeln ausgegraben und unter seiner Jacke hatte mitgehen lassen. Er sollte ausgepeitscht werden.
Rooke war klar, dass man in der Siedlung den Diebstahl von Nahrungsmitteln nicht dulden konnte. Niemand konnte dem widersprechen. Doch der Hunger beherrschte allmählich jedermanns Tage. Die Sträflingsfrauen hatten die Küste um die Buchten herum nach Essbarem abgesucht und jede Napfschnecke und Strandschnecke gesammelt, die sie hatten finden können, waren aber immer noch bleich und hager, ihre Augen stumpf. Der einzige Mensch in der Siedlung, der immer noch gut genährt aussah, war der Wildhüter Brugden. Wer
Weitere Kostenlose Bücher