Australien 04 - Wo wilde Flammen tanzen
aber ist es dafür nicht ein bisschen spät? Sie haben die Rinder bereits verbannt.«
Emily wusste, dass ihr Bruder seine Musik, seine größte Freude, nicht mit der negativen Energie belasten wollte, die mit seinen Erfahrungen als Cattleman verbunden war, aber wenn sie die Sache aus einem neuen Blickwinkel angingen und das Publikum über seine Musik mit ihrer Geschichte vertraut machten, konnten sie damit vielleicht etwas in Bewegung setzen.
»Ich meine nicht, dass wir denselben Kampf noch einmal aufnehmen sollten. Ich meine, dass wir weitermachen sollten, aber diesmal, indem wir den Menschen den Weg weisen.«
»Gelobt sei der Herr, Halleluja!«, rief Sam mit Nashville-Akzent aus. »Du solltest eine von diesen beknackten amerikanischen Religionsshows moderieren. So wie du redest, würdest du im Handumdrehen in Geld schwimmen!«
»Sam«, versuchte Rod ihn zu dämpfen. »Emily hat recht. Es geht wirklich darum, dass wir den positiven Dreh finden, und ich schätze, wenn man mitten in einem Kampf steckt, verliert man das Gute leicht aus den Augen. Mir ging das lange so, nachdem eure Mutter gestorben war.«
Sam und Emily sahen erschrocken in das faltige Gesicht ihres Vaters. Er redete nie über ihre Mutter. Sie warteten schweigend ab. Dann sprach er weiter.
»Schließlich begann ich zu erkennen, was sie mir Wunderbares hinterlassen hatte. Euch.« Seine blauen Augen ruhten auf Emily und Sam.
»Die Augen gingen mir genau hier auf, in dieser Hütte, als ihr beide zum ersten Mal über Nacht auf den Viehtrieb mitgekommen wart. Erinnert ihr euch noch? An eure erste Nacht hier draußen?«
Emily und Sam nickten. Wie hätten sie das vergessen können? Endlose Stunden waren sie auf ihren Ponys geritten, viel zu aufgeregt, um sich über ihre verkrampften Muskeln, die vom Leder der Steigbügel aufgeschürften Waden oder die kältesteifen Finger zu beklagen. Sie waren außer sich vor Aufregung, weil sie in einer Hütte schlafen würden, die versteckt an einem mächtigen Berg lag. Emily versuchte, sich zu erinnern, wie alt sie gewesen war. Sam war damals mindestens fünf, also musste sie fast sieben gewesen sein. Ihr Vater hatte bis dahin unter einer schwarzen Wolke der Trauer gelebt, doch dann hatte sich seine Stimmung unerwartet gebessert und aufgehellt, so als wäre der Mond durch den Abendnebel gebrochen.
»In dieser Nacht«, erzählte er, »genau hier am Lagerfeuer, während ihr in euren Kinderschlafsäcken geschlafen habt und eure Ponys an dem Baum dort drüben angebunden standen, wurde mir klar, dass Suzie immer noch bei uns ist. Mir wurde klar, dass es an mir war, mich auf das Gute und nicht auf das Schlechte zu konzentrieren. Damals begriff ich, dass ich weitermachen würde, allen Widrigkeiten zum Trotz. Ich vermisse sie immer noch jeden Tag, aber seither kann ich wieder das Positive sehen.«
Er schleuderte den Rest aus seiner Tasse ins Feuer. Bis auf das Zischen des Tees auf den heißen Steinen war es vollkommen still.
Emily setzte ihren Hut ab, ging zu ihrem Vater und schloss ihn in die Arme. Flo zerdrückte eine Träne auf ihrer Wange und tätschelte Rods Knie.
»Mann«, sagte sie. »Hoffentlich sieht uns hier keiner. Das ist ja wie Zeit der Sehnsucht im australischen Busch.«
Emily lachte und spürte, wie der Augenblick in diesem Moment ein Teil ihrer Familiengeschichte wurde. Keiner würde ihn je vergessen. Es war ein Abschied, aber es war auch ein Neuanfang.
30
Zwei Tage später senkte Emily im bläulichen Licht kurz vor der Morgendämmerung den oberen Holm des alten, schlichten Holzzaunes und ließ die Rinder hinaus. Damit begann der letzte Viehtrieb über die steile, gewundene Straße bergab in Richtung Süden und nach Dargo. Rousie lief vorn mit und bremste die Rinder ab, die sich sofort über die langen Gräser am Straßenrand hermachen wollten. Die Kühe wussten, dass es Zeit zum Heimkehren war und machten sich eilig auf den Weg in die wärmeren Zonen des Tieflandes. Sie trabten unverzüglich los, sodass Rousie und Sam auf seinem Wildpferd alle Mühe hatten, sie unter Kontrolle zu halten.
Insgesamt waren es dreihundert Rinder, dazu kamen weitere zweihundertfünfzig von Bob, die sie von einer Koppel auf einer tieferen Hügelkette des Weidegebietes holen mussten. Flo führte die Aufsicht über die Rinder ihres Bruders, der sie angerufen und ihnen erklärt hatte, dass er leider keine Zeit habe, die Tiere ins Tiefland zu treiben. Die Familie hatte die Nachricht mit einem kollektiven Augenrollen
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