Australien 04 - Wo wilde Flammen tanzen
konnte doch nicht wissen, dass sie mir den Job sofort anbieten! Komm schon, Cassy, sieh’s doch mal so. Es hört sich an, als wäre das eine einmalige Gelegenheit für mich. Außerdem ist Dargo nur fünf Stunden oder so entfernt. Acht mit Zug und Bus.«
Inzwischen heulte Cassandra ungehemmt.
»Komm schon«, versuchte Luke sie zu trösten. »Du kannst hochkommen und mit mir unter den Sternen schlafen. Wieder zur Natur zurückkehren. Deinen neuen Campingkocher ausprobieren.« Kurz ließ sich Cassy inmitten des lauten Bongogetrommels der anderen Demonstranten in seine Arme sinken. Sie schniefte laut, wischte sich mit dem Rücken der Pelzpfote über die Nase und nickte. Er merkte, dass sie sich damit abzufinden begann, aber im selben Moment wurde ihm klar, dass ihm ein echter Schlussstrich lieber gewesen wäre.
»Cassy, bitte freu dich für mich. Das klingt nach dem idealen Job für mich.«
»Aber was wird aus mir? Was wird aus uns?«
»Vielleicht kannst du da oben auch einen Job finden? Dann könntest du direkt an der Basis für all deine Ziele kämpfen.«
»Was?« Die Stirnfalten waren wieder da. »Da rausziehen? Aber ich bin hier zu Hause. In Melbourne. Wie soll ich da draußen irgendwas bewirken, wenn alle Lobbygruppen hier sitzen? Ehrlich, Luke, du bist so verflucht blöde. Und egoistisch!« Jetzt waren auch die Tränen wieder da.
Wo ist sie geblieben, fragte sich Luke. Die eigensinnige, unbeugsame junge Frau, die gegen alle Übel der Menschheit gekämpft hatte? Das Mädchen, das gegen Legebatterien, Lebendtiertransporte, Milch- und Fleischverzehr gewesen war? Es hatte ihm gefallen, wie sie in absoluter Überzeugung über Themenkomplexe hinweggepflügt war, von denen sie keine Ahnung hatte. Die Menschen, die er bis dahin gekannt hatte, waren immer so ausgewogen gewesen. So höflich. So langweilig, verglichen mit ihr. Sie war unerschütterlich in ihren Überzeugungen. Schamlos. Das hatte ihm geholfen, seine eigene Unsicherheit zu ignorieren. Sein Dad hatte ihm erklärt: »Die Landwirtschaft hat keine Zukunft«, und seine Freunde hatten gewitzelt, dass es schon an Kindesmissbrauch grenzen würde, seinem Kind eine Farm zu hinterlassen. Also hatte er sich in die Stadt aufgemacht, mit Farmerblut in den Adern, aber mit nichts im Herzen, was es ersetzen könnte. Verloren und haltlos war er hier gestrandet. Cassandra hatte ihm wieder Halt gegeben.
Doch jetzt, wo sie schluchzend das Gesicht in den Kopf des Kaninchennasenbeutlerkostüms presste, erkannte er, dass sie genauso orientierungslos war wie er. Ganz sanft sagte er: »Ich werde gehen, Cassy. Ob du einverstanden bist oder nicht.« In ihrem lächerlichen Kostüm wirkte sie klein und mitleiderregend. »Wenn du mich liebst und wenn du die Natur liebst, dann komm mit mir«, sagte er, ohne zu wissen, ob ihm das überhaupt recht war, er wurde von seinem schlechten Gewissen getrieben. Er wollte ihre Pfote festhalten. Doch sie schüttelte ihn zornig ab.
»Wenn du mich lieben würdest, dann würdest du hierbleiben!« Im nächsten Moment war sie aufgestanden und watschelte zu ihrem klapprigen Fahrrad. Sie setzte den Kaninchennasenbeutlerkopf wieder auf und schwang wacklig ein Bein über den Sattel.
»Cassy!«, rief Luke ihr nach. »Sei nicht albern.«
Ihre Antwort wurde von dem Kaninchennasenbeutlerkopf verschluckt, aber sie drückte mit einer riesigen Pfote das Pedal nieder und lenkte im nächsten Moment das Rad auf den Fußweg und von dort aus in den dichten Straßenverkehr.
12
»Heilige Schafskacke!«, sagte Emily, als sie hinten in dem Notarztwagen, der eben im Krankenhaus eingetroffen war, ein Mädchen in einem riesigen Rattenkostüm sitzen sah. Durch die offene Tür konnte Emily erkennen, dass die junge Frau praktisch kahl rasiert und mehrfach gepierct war und dass ihr eines Bein in eine aufblasbare Schiene gepackt war wie in eine winzige Luftmatratze. Sie plärrte in ein Handy: »War ja klar, dass du dein Handy ausgeschaltet hast! Wenn du das hier hörst, dann schaff deinen Hintern ins Krankenhaus. Und zwar sofort !«
Das hier war kein Krankenhaus, sondern ein Irrenhaus, dachte Emily. Sie musste hier raus! Während der letzten Wochen hatte sie sich dem starren Rhythmus des Krankenhauslebens angepasst, der von urplötzlichen Schmerzensschreien ihres Körpers akzentuiert wurde, sobald sie sich einmal unbedacht bewegte oder auch nur hustete. Ihre Tagesform war davon abhängig, welche Schwester gerade Dienst hatte, ob die Mädchen sie besuchten oder wie stark
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