Australien 04 - Wo wilde Flammen tanzen
an die Balance. Und jetzt sollten Sie endlich gesund werden, damit Sie mit den anderen nach Melbourne fahren können. Sie haben viel Zeit mit Ihrem Mann verbracht, jetzt sollten Sie Zeit mit Ihren Leuten verbringen. Ihre Familie braucht jemanden wie Sie, der sie in eine neue Richtung lenkt.«
»Wieso ›wie mich‹?«
»Sie können das nicht sehen, meine Liebe, aber Sie strahlen etwas aus. Sie glauben, Sie seien nichts als eine alleinerziehende Mutter mit einem zerschundenen Körper, aber in Wahrheit sind Sie ein machtvolles Wesen, dem die Welt zu Füßen liegt. Sie sind reines Licht.«
»Licht?«
»Genau wie Ihre Jüngste.«
»Meg?«
»Richtig.« Evie legte Emily behutsam das alte Fotoalbum auf den Schoß, das immer im Wohnzimmer herumlag und in das im Lauf der Jahre nach Lust und Laune Fotos eingeklebt worden waren, hauptsächlich an wilden Tagen, an denen es zu stürmisch war, um auf die Weiden zu reiten. »Sehen Sie sich die Kleine genau an. Kinder sind reiner. Sie hatten noch keine Zeit, ihren Glauben zu verlieren. Dieses Mädchen ist eine wahrhaft alte Seele.«
Evie ließ Emily allein im Album blättern. Erstaunt registrierte sie, dass die Kamera oft einen leuchtenden weißen Schein um Megs Silhouette gelegt hatte. Manchmal war ihr Kopf umrahmt wie von einem Heiligenschein, oder ihr ganzer Körper leuchtete in silbernem Licht. Auf manchen Bildern war das Licht nur gedämpft zu sehen, auf anderen klar und kräftig. Auf einem am Mount Ewan aufgenommenen Bild blickte Meg tief in die Kamera. Sie schien mit der Quelle, die neben ihr aus dem uralten Fels schoss und die tiefgrünen Farnbüsche speiste, eins zu sein. Meg kauerte neben dem silbern sprudelnden Wasser, und neben ihr verharrte mit den Flügeln schlagend ein Insekt. Emily wusste natürlich, dass es eine Libelle war. Aber Megs Augen leuchteten so beim Anblick der fliegenden Kreatur an ihrer Seite, dass die beiden irgendwie verbunden wirkten, fast wie Erdgeister oder Feen.
»Nein«, sagte Emily laut und rief sich kopfschüttelnd zur Vernunft. Sie klappte das Buch zu. Wo sollte das nur hinführen? Vor dem Unfall war sie nur eine Mutter mit zwei Kindern gewesen. Jetzt hatte sie zunehmend das Gefühl, sich überhaupt nicht mehr zu kennen.
Im Haus schrillte schon wieder das Funktelefon.
»Emily! Für Sie!«, rief Evie.
Widerstrebend erhob sie sich aus dem warmen Nest, das sie sich in dem großen, alten Sessel gemacht hatte, und schleppte sich ins Haus. Hinter ihr klickten Rousies Pfoten auf dem Linoleum.
Evie reichte ihr das Telefon und sagte dabei leise: »Vergessen Sie nicht, Sie sind reines Licht.«
»Hallo?« Als Emily die Stimme am anderen Ende hörte, wurde ihr sofort schwer ums Herz. Es war Clancy. Sie sah Evie verzweifelt an, aber Evie sah nur himmelwärts und schnitt eine alberne Grimasse.
»Wie kannst du einfach so mit meinen Kindern abhauen?«, hörte Emily ihren Mann über dem statischen Rauschen der Funkverbindung brüllen.
»Ich bin nicht mit den Kindern abgehauen. Ich bin aus dem Krankenhaus abgehauen, und die Kinder sind dort, wo sie hingehören. Bei mir … bei ihrer Familie.«
Wieder hörte sie das Schnauben.
»Du kannst sie mir doch nicht wegnehmen!«
Emily biss sich auf die Fingernägel und wäre am liebsten vor Zorn explodiert. Doch im selben Moment zog Evie einen perfekt gebackenen Schokoladenkuchen aus dem Ofen, zwinkerte ihr zu und schnitt wieder eine alberne Grimasse. Emily nahm ihre ganze Kraft zusammen und blieb ruhig.
»Nein, Clancy. Ich kann sie dir auf keinen Fall wegnehmen. Du bist ihr Vater. Du kannst sie hier jederzeit besuchen. Oder wir können uns in Dargo zum Essen treffen, wenn du möchtest.«
Am anderen Ende der Leitung blieb es still. Er hatte eine andere Antwort erwartet.
»Geht nicht«, antwortete er schließlich. »Hab diese Woche eine Fahrt nach Brisbane. Aber glaub bloß nicht, dass du mich verarschen kannst. Ich will meine Mädels, Emily. Du kannst sie nicht ewig da oben verstecken.«
»Bis dann, Clancy«, sagte sie ruhig. Aber als sie den Hörer auflegte, sah sie ihre Hände zittern.
17
Auf dem vierspurigen Freeway trat Luke das Gaspedal durch und holte aus dem Datsun damit stolze neunzig Stundenkilometer heraus. Trotzdem wurde er ständig angehupt und bekam den Vogel gezeigt, was ihn noch wütender machte. Die Streitereien mit Cassy wurden immer schlimmer. Kaum hatte er sich geschworen, dass er sich von ihr trennen würde, da hatte sie sich den Fuß gebrochen. Er brachte es nicht über sich,
Weitere Kostenlose Bücher