Australien 04 - Wo wilde Flammen tanzen
hörte. »Eigentlich bin ich vor allem wegen der Kräuter in die Berge gezogen. Deswegen und wegen meiner persönlichen Altlasten, die ich aber hier nicht ausbreiten möchte. Immerhin werden es weniger. Aber vor allem interessiere ich mich für das Heilen. Für die Gesundheit und das Heilen.«
»Im Ernst?«, fragte Sam. »Ich dachte, Sie wären die örtliche Graslieferantin. Das erzählt man sich wenigstens im Pub.«
»Ach ja? Komisch, mich hat nie jemand nach Drogen gefragt. Und ich habe nie so etwas erzählt. Sollen sich die Leute doch ausdenken, was sie wollen. Das vertreibt ihnen die Zeit, und mich interessiert es nicht. Ich weiß, dass viele behaupten, ich wäre verrückt. Aber sind wir das nicht alle irgendwie?«
Sam und Emily sahen sich kurz an.
»Warum leben Sie ganz allein in den Bergen? Warum nicht unten im Ort, wo Sie als Krankenschwester im Buschkrankenhaus arbeiten könnten?«, fragte Emily.
Evie zuckte mit den Achseln. »Weil ich eine Einzelgängerin bin. Ich liebe die Berge, genau wie ihr Flanaghans. Außerdem habe ich die konventionelle Medizin hinter mir gelassen, darum gibt es im Krankenhaus keinen Platz mehr für mich. Es dient seinen Zwecken, aber mein Gesundheitsansatz zielt vor allem auf das ab, was zwischen den Ohren liegt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Also, nehmen Sie doch nur Ihren eigenen Fall.« Evie sah Emily offen an. »Aus Ihren Verletzungen kann ich eine Menge über Ihre Gefühle und Gedanken schließen.«
»Na klar«, sagte Emily lachend. »Ich habe gedacht: Scheiße, da steht ja ein Baum!«
Evie ignorierte ihre Stichelei und redete mit ihrer ruhigen, sanften Stimme weiter. »Die Tatsache, dass Sie sich die Rippen gebrochen haben, verrät mir, dass es Ihnen sehr schwerfällt, so zu sein, wie eine Frau Ihrer Meinung nach sein sollte, wenn sie in einer Beziehung mit einem Mann steht. Sie haben Ihre Identität verkauft. Es verrät mir, dass Sie irgendwie gegen Autoritäten rebellieren; Sie haben schon in Ihrer Jugend gegen das drohende Weideverbot angekämpft, nicht wahr? Und die Tatsache, dass Sie einen Unfall hatten, verrät mir, dass Sie nicht nur gegen diese Autorität aufbegehren wollen, sondern dass Sie bei dem Kampf auch Ihre Stimme verloren haben. Ihre Verletzungen machen es Ihnen bestimmt schwer zu atmen, und das verrät mir wiederum, dass Sie ängstlich sind und das Leben nicht in vollen Zügen leben können. Es sagt mir, dass Sie manchmal das Gefühl haben, Sie hätten gar kein Recht, den Ihnen zustehenden Raum einzunehmen und auf dieser Welt zu sein.«
»Quatsch!«, widersprach Sam, der am Verandapfosten lehnte und sich eine Zigarette drehte. »Sie kennen unsere Emily kein bisschen.«
»Schön, wenn Sie das für Quatsch halten, Sam«, erwiderte Evie. Sie sah ihn mit ihren klaren Augen an. »Wer suchtanfällig ist, versucht meist, vor sich selbst zu fliehen. Wenn Sie über Ihr Leben nachdenken, denken Sie bestimmt oft: Wozu das alles? Ich weiß, dass Sie sich schuldig, überflüssig und ausgestoßen fühlen.«
»Fühlt sich das nicht jeder?«, wehrte er sich.
»Drogensucht und Alkoholismus«, fuhr Evie fort, »zeugen von Selbstablehnung und betreffen Menschen, die für das in ihnen leuchtende Licht Gottes blind sind.«
Jetzt loderten Flammen aus Sams Augen. »Sie bezeichnen mich also als Drogensüchtigen und Alki? Woher wollen Sie denn das wissen?«
Evie sah zum Himmel auf. »Ich werde von intuitiven Energien geleitet.«
»Siehst du? Sie ist wirklich eine durchgeknallte Fanatikerin!« Sam warf Emily einen wütenden Blick zu und sah dann wieder Evie an. »Was nehmen Sie sich heraus, hier aufzukreuzen und über uns zu urteilen?«
»Ich bin hier, weil ich hergesandt wurde. Und ich urteile über niemanden.«
»Ach so! Man hat Sie also hergesandt, wie? Sie haben einen direkten Draht zu Gott? Er hat Sie auf der kostenlosen himmlischen Hotline erreicht, habe ich recht?«
»Nein. Ehrlich gesagt war es die Hauspflegestation in Dargo. Die haben mich angerufen. Man schien zu wissen, dass Ihre Familie nicht nur medizinische Betreuung braucht. Sondern generell Unterstützung.«
Emily erstarrte, als Evie das Buschkrankenhaus in Dargo erwähnte. Hatte etwa Penny alles in die Wege geleitet, um ihr Gewissen reinzuwaschen? Sie spürte Evies ruhigen Blick, als würde die Krankenschwester ihre Gedanken lesen.
»Emily«, beruhigte Evie sie. »Sie haben viel zu verarbeiten. Für Sie ist das eine Zeit des Übergangs. Es ist nicht schlimm, wenn eine Ehe endet.« Emilys Augen wurden
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