Australien 04 - Wo wilde Flammen tanzen
Dunkelheit.
21
»Jesus!«, sagte Flo. »Heute sind wirklich alle gekommen!«
Vom Pferdewagen der Flanaghans aus betrachtete Emily das faszinierende Bild, das sich vor ihnen ausbreitete. Der Park, der das riesige Sportstadion des Melbourne Cricket Grounds umgab, war mit Geländewagen, Pferdeanhängern, Lastern, Aufliegern und Wohnmobilen vollgeparkt, und an jeden Baum und jedes Gefährt war ein Pferd angebunden. Über fünfhundert Reiter waren gekommen, um gegen das Weideverbot zu protestieren, das in wenigen Wochen von der Regierung ihres Bundesstaates erlassen werden sollte. Nicht nur Cattlemen aus den Bergen hatten sich auf den Stufen vor dem Parlament von Victoria versammelt. Andere Bauernverbände hatten sich ihrem Zug angeschlossen, denn alle wollten ihre Unzufriedenheit darüber zeigen, dass die Regierung ihre Politik allein an den Städten ausrichtete. Hunderte und Aberhunderte würden zu Fuß losmarschieren und den Pferden der Cattlemen durch die Straßen der Stadt bis zum Parlamentsgebäude folgen.
Emily wäre überall anders lieber gewesen, aber ihre ganze Familie hatte sie gezwungen mitzugehen. Nach jenem Abend im Pub hatte sie so apathisch geschwiegen, dass allen angst und bange geworden war. Ihr Dad, Flo und sogar Evie hatten gemeint, dass es ihr bestimmt guttun würde, eine Weile aus den Bergen heraus- und von Dargo wegzukommen. Emily hatte nicht mit ihnen reiten wollen, aber auch hier hatten ihre Familie und Evie darauf bestanden, dass Snowgum nicht leiden würde, wenn Emily ohne Sattel auf ihr ritt. Der Protestzug führte nur über ein kurzes Stück auf ebener Straße. Mit ihrer Rechthaberei machten sie Emily rasend. Erst als auch Tilly um jeden Preis in die Stadt fahren wollte, war Emily eingeknickt.
»Sam ist bestimmt froh, dass er nicht mitkommen muss«, sagte Flo, während sie Meg und Tilly auf ihre Ponys half.
»Ja, und ich verstehe nicht, warum ich trotzdem mitkommen musste«, sagte Emily. Normalerweise hätte sie sich die Sache der Cattlemen sofort zu eigen gemacht, aber seit dem Unfall fühlte sie sich von allem ausgeschlossen. Die Vorstellung, dass sie die Weiderechte in den Bergen verlieren könnten, jagte ihr schreckliche Angst ein, trotzdem fühlte sie sich aus irgendeinem Grund bei diesem Auftrieb in der Stadt fehl am Platz.
»Hör auf zu jammern, Mädchen, und genieß es«, ermahnte ihre Tante sie. »Dieses Spektakel wird großartiger als Ben Hur! Sam bleibt besser mit seiner neuen Freundin Evie auf dem Berg. Wir wissen alle, dass ihn die Association sonst gedrängt hätte, auf der Veranstaltung zu singen. Und das kann er momentan überhaupt nicht brauchen. Wenn er zu Hause bleibt, hat er bessere Chancen, diesen ganzen Drogenmist zu vergessen.«
Neben ihr begann Rods Funkgerät zu knistern und verkündete, dass es Zeit zum Losreiten war.
»Bist du bereit?« Rod hielt Megs Führungsleine und sah von seinem großen Wallach Redgum auf Emily herab.
»Fast«, antwortete sie und schob ein spiralgebundenes Regierungsdokument in die Tasche ihres Ölzeugs.
»Was hast du da?«, fragte Flo und hievte ihre Nichte auf Snows breiten Rücken. Emily verzog das Gesicht, denn ihr Körper protestierte immer noch gegen jede Anstrengung. Sie musste kurz abwarten, bis sich das Schwindelgefühl gelegt hatte, ehe sie antworten konnte.
»Nur dieses tasmanische Gesetz, von dem Evie uns erzählt hat. Sie hat gemeint, ich soll es mitnehmen und es der richtigen Person in die Hand drücken, falls sich eine Gelegenheit dazu ergibt.«
»Ach ja?«, fragte Flo. »Und wer ist die richtige Person?«
Emily zuckte mit den Achseln. »Evie meinte, das würde ich schon merken, wenn der richtige Augenblick gekommen ist. Typisch Evie! Jedenfalls ist es eine Untersuchung, in der Wissenschaftler zu dem Schluss gekommen sind, dass eine kontrollierte Beweidung dem Land guttut. Wer weiß, wenn die Quadratschädel in unserem Parlament das zu lesen bekommen, bitten sie uns vielleicht sogar, unser Vieh in den Bergen weiden zu lassen und ihnen bei der Bewirtschaftung zu helfen, statt uns völlig zu verbannen!«
»Gute Idee, Mädchen.« Flo brachte ihren unruhigen Braunen zum Stehen. »Einen Versuch ist es jedenfalls wert. Wenn wir heute nicht ein paar Leute zum Umdenken veranlassen, könnten wir alles verlieren!«
»Und es geht bestimmt mit dem Reiten?«, fragte Rod, den Blick auf Emily gerichtet. Sie nickte. Sie hatte praktisch seit ihrer Geburt auf Pferden gesessen. Sie hätte gedacht, dass sie Angst haben würde, nach
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