Australien 04 - Wo wilde Flammen tanzen
erwiderte er aufgebracht und drehte ihnen den Rücken zu. »Ich weiß wirklich nicht, was ihr beiden habt!«
Emily spürte Tränen in ihren Augen. Sie stieß sich von der Theke ab, doch plötzlich hätte sie fast laut gelacht. Eine Vorstadthausfrau. War sie das wirklich? Hatte Sam vielleicht die Wahrheit gesagt? Plapperte sie nur ein paar Parolen nach? War es möglich, dass sie gar kein Anrecht mehr auf ihre Berge hatte?
Auf dem Weg zur Toilette wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und sah Mascaraschlieren auf ihrem Handrücken. Die Toiletten befanden sich auf der Rückseite des alten Baus, darum machte sich Emily auf den Weg über die Veranda an der Hausseite, vorbei an den aufgestapelten silbernen Bierfässern, die von Dargos einziger Straßenlaterne erhellt wurden.
Sie wusch sich die Hände, sah sich danach im Spiegel an und wusch das von Bridie so sorgsam aufgetragene Make-up ab. Danach beugte sie sich dem Spiegel entgegen und versuchte, in ihr Innerstes zu schauen. Wohin war sie verschwunden, als ihr Körper reglos auf dem Fels gelegen hatte? Was hatte ihr inneres Auge wirklich gesehen? Und warum fühlte sie sich seither so rastlos? Es war, als lägen die alte Emily und die neue in ständigem Streit.
Plötzlich blitzte in ihrem Kopf das Bild eines windschief gezimmerten Hotels mit durchhängendem, rindengedecktem Dach und Sägespänen auf dem Boden auf. Von betrunkenen Minenarbeitern, zwei Männern aus Tipperary, den Rowdys des Ortes, die sich auf allen vieren niedergelassen hatten und sich wie Widder mit den Köpfen stießen, während ihnen die anderen Gäste zujubelten. Draußen auf der Veranda rasierten ein paar junge Kerle lachend einem Pferd die Mähne und den Schweif ab. Sie sah, wie der gut aussehende junge Prediger aus ihrem Traum darum bat, sein Pferd zu satteln. Dann erhaschte sie einen Blick auf den Priester, als er aus dem Pub geschoben wurde und sein geschorenes Pferd in Empfang nahm. Die anderen Männer taumelten trunken und lachend herum, führten das Pferd rückwärts ans Haus und präsentierten ihm das rasierte Tier, das Zaumzeug hing schlaff über dem traurigen Rest des Schweifs, während der Sattel verkehrt herum auf dem Rücken saß. Sie sah raue Männer, die gegen jede Autorität rebellierten. Fast wie Onkel Bob. Vielleicht auch wie sie selbst? Gott und Grog und raue Sitten … darauf beruhte dieser Ort.
Plötzlich hämmerte jemand gegen die Tür.
»Alles okay?«, hörte sie Bridies Stimme.
»Alles in Ordnung«, rief Emily zurück. »Bin gleich wieder da.«
»Sicher?«
»Ja.« Emily hörte, wie ihre Freundin aus der Toilette ins Freie trat und ihr dabei noch zurief: »Diese zwei Vollidioten!«
Den Blick auf ihr Spiegelbild gerichtet, rief sich Emily ins Gedächtnis, was ihr Evie über Energien erzählt hatte und was in ihren Büchern über Zeittheorie stand. War es möglich, dass dieser ganze Goldsuchertrubel immer noch anhielt, wenn auch in einer anderen Dimension? Und die Aborigines … waren sie ebenfalls noch hier und sammelten auf der Hochebene Motten, wenn es Zeit dafür war? War der wütende Wortwechsel, den sie sich vor dem neuen Ranger mit Sam geliefert hatte, vielleicht auf etwas zurückzuführen, was früher hier passiert war, so als hätte sich der düstere, unzähmbare Geist dieses Ortes in ihren Genen verankert? Wildheit und Derbheit waren wichtige Ankerpunkte in Emilys Familiengeschichte. Vielleicht hatte Luke gar nicht so unrecht, wenn er sie für eine Hinterwäldlerin hielt.
Ihre Gedanken schockierten sie. Vor ihrem Unfall war sie einfach nur die Tochter eines Cattleman gewesen, die gern Vieh trieb, auf durchtrainierten Pferden ritt, im Pub Bier trank und sich dort gelegentlich ein Essen gönnte, genau wie ihre Tante Flo. Sie hatte sich keine Fragen über das Leben und den Tod, über das Universum und den ganzen Rest gestellt. Doch inzwischen hatte sie sich unwiderruflich verändert – und die Veränderungen machten ihr Angst. Sie merkte, dass das Streben nach einem Geist, der so offen war wie das Universum, und nach einem unantastbaren inneren Kern, stark wie die Anziehungskraft selbst, im wirklichen Leben mit Gefahren verbunden war und zum tiefen Absturz führen konnte. Sie konnte immer noch nicht wirklich glauben, dass sie ein Recht auf Schönheit und Lebensfreude hatte. Auch wenn Evie ihr das immer wieder versicherte.
Evies Lehren forderten ihren Preis. Bevor Emily ihre Ratschläge wirklich umsetzen konnte, musste sie die Fesseln ihrer familiären
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