Australien 04 - Wo wilde Flammen tanzen
sie mit erhobenem Finger die geschönten amtlichen Statistiken anprangerten.
Emily saß schweigend und mit gesenktem Kopf auf Snowgum und hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen. Sie hörte die Reden mit ganz neuen Ohren. Sie hörte wohl, mit welcher Leidenschaft die Cattlemen sich ereiferten, aber die wenigsten wiesen auf die schlichte Tatsache hin, dass die Rinder in den meisten Fällen der Umwelt nutzten. So einfach war das. Emily wusste durchaus, dass sich nicht alle Berggebiete für eine Beweidung eigneten. Sie wusste, dass vor einigen Generationen, als sich kaum jemand Gedanken über die Umwelt gemacht hatte, streunende Rinder, Pferde, Ziegen und sonstige ausgerissene Haustiere die Berge kahl gefressen hatten, nachdem die Minen geschlossen worden waren. Niemand wünschte sich diese Zeiten zurück.
Wie konnte sie diesen Menschen deutlich machen, dass in ihrem Landstrich nur wenige Tiere gehalten wurden und dass es der Natur half und nicht schadete, wenn die festen subalpinen Böden von Zeit zu Zeit beweidet wurden? Sie konnte auf keine wissenschaftlichen Studien zurückgreifen, um ihren Argumenten Nachdruck zu verleihen. Emily merkte, wie sich die vertraute Verzweiflung in ihr breitzumachen begann. Was sollte sie nur tun? Wie konnte sie den Menschen, die über dieses Thema entscheiden würden, ohne das Land jemals mit eigenen Augen gesehen zu haben, überzeugen?
Plötzlich fielen ihr die in amtlichem Kauderwelsch verfassten tasmanischen Vorschriften ein, die sie in ihre Tasche gesteckt hatte. Sie zog sie heraus und wog sie in der Hand. Mitten in der Menge meinte sie Evies Stimme zu hören: »Du wirst schon wissen, wem du sie übergeben musst.« Sie schaute auf und sah auf den mächtigen Stufen vor dem Parlament den Premier in seinem dunklen Anzug flankiert von seinen Assistenten und Ratgebern stehen. Mit klopfendem Herzen zog sie den Stift aus ihrem Notizbuch und schrieb auf die Broschüre: » Mr Premier, BITTE lesen Sie das!« Sie sah wieder auf den Mann vor dem Parlament, dann schrieb sie noch dazu: » Mit Liebe von Emily F. « Hatte Evie ihr nicht erklärt, dass die Liebe mächtiger war als alles andere? Sie lächelte still vor sich hin und spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss, als ihr klar wurde, was sie jetzt tun musste.
»Bleibt ihr kurz allein hier?«, sagte sie zu Tilly und Meg, und beide nickten.
Emily drängte Snowgum nach vorn, fand einen Weg zwischen den Absperrungen hindurch und setzte mit der Stute über den provisorischen Zaun, der die Reiter vom Parlament trennte. Sicherheitsbeamte kamen auf sie zugerannt, doch sie trieb Snowgum die rutschigen Stufen hinauf. Mit ihrem eingegipsten Arm und ohne Sattel musste sich Emily allein auf den Druck ihrer Schenkel verlassen. Ihr ganzes Leben lang hatten die Leute über sie gesagt: » Das Mädchen reitet wie der Teufel!« Heute durfte sie keine Sekunde an diesen Worten zweifeln, so wenig, wie sie an sich und an ihrem treuen weißen Pferd zweifeln durfte.
»Verzeihung, Miss. Sie dürfen hier nicht reiten!«, rief ein Mann und stellte sich ihr in den Weg, um nach Snowgums Zügeln zu greifen.
»Ja, ich weiß. Entschuldigen Sie, aber ich muss das dem Premier übergeben.« Emily hielt die Broschüre hoch. Sie war nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Atemlos sah sie auf und blickte ihm tief in die Augen. Dann ließ sie ein breites Lächeln erstrahlen. »Guten Tag, Mr Premier!«, rief sie ihm zu. Er nickte und schenkte dieser hübschen, aber offensichtlich verrückten jungen Frau ein freundliches Lächeln. Dann trat er, womit keiner gerechnet hätte, auf sie zu und nahm ihr die Broschüre aus der Hand.
»Ich werde das lesen«, versprach er ihr. Sie sah ein Leuchten in seinen Augen, sah freundliche Fältchen in den Augenwinkeln. Er sieht viel netter aus als im Fernsehen, dachte sie.
»Danke«, antwortete sie und senkte demütig den Kopf. Dann wendete sie Snowgum und ritt die Stufen wieder hinab. Im selben Moment brandete Jubel auf, dann war sie von Kameras und Polizisten umringt. Trotz des Tohuwabohus blieb die Stute ruhig, als sich die Menschen um sie drängten. Das hier war nicht viel anders als an Emilys achtzehntem Geburtstag, an dem sie mit Snowgum in eine Bar und damit in ein Gewitter von Blitzlichtern und lauter Musik geritten war. Snowgum nahm alles in unerschütterlicher Ruhe hin. Emily hingegen fühlte sich nicht mehr so selbstsicher. Sie wurde von allen Seiten bedrängt.
»Was haben Sie dem Premier übergeben?«, rief ein
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