Auszeit für Engel: Roman (German Edition)

oder?«
    »Natürlich bist du das«, sagte er entschieden. »Lass dich nicht von ihnen runterziehen.«
    Das von meiner Familie erzähle ich aber nicht nur, um den Hintergrund lebendig zu gestalten, sondern weil ich einen bestimmten Grund habe: Ich werde nämlich wieder bei dieser Familie wohnen.
    Ich hätte auch bei Donna einziehen können, nur dass bei ihr erst vor kurzem Chaoten-Robbie, mit dem es mal lief, mal nicht, eingezogen war, und ich war mir nicht sicher, dass sie jemand Drittes willkommen heißen würde. Oder ich hätte Sinead fragen können, aber Dave hatte sie vor die Tür gesetzt, und jetzt war sie noch obdachloser als ich. Und ich hätte meine beste Freundin Emily um den Gefallen bitten können, denn bei ihr ist massenhaft Platz. Das Problem ist nur, dass sie in Los Angeles lebt. Was nicht gerade praktisch ist.
    Also muss ich mit der Mütze in der Hand in den Schoß meiner Familie zurückkehren. Doch zunächst musste ich ihnen erklären, warum, und davor fürchtete ich mich.
    Möglicherweise ist es nie leicht, die Eltern zu enttäuschen, aber in meinem Fall kommt es mir besonders schwierig vor. Ich bin diejenige, die ihren ersten Freund geheiratet hat, und
sie sind so stolz auf mich und auf die Häkchen, die sie bei fast jedem Punkt auf der Liste machen konnten, dass es einen ans Herz rührt: die Ehe, das Haus, das Auto, die Arbeit, die Rentenversicherung, die psychische Stabilität.
    »Um dich haben wir uns nie Sorgen machen müssen«, hieß es oft. »Und du bist die Einzige.« Dann warfen sie derjenigen unter meinen Schwestern, die ihnen gerade Kummer bereitete, einen sorgenvollen Blick zu. Und nach all den Jahren, in denen ich nie Anlass zu Kummer gegeben hatte, war ich jetzt diejenige, der die sorgenvollen Blicke gelten würden.
    Ich blieb vor der Haustür stehen, bevor ich aufschloss. Ein Moment der Sammlung. Ich spürte das heftige Bedürfnis wegzulaufen, das Land zu verlassen, mein verheerendes Scheitern nicht mit ansehen zu müssen. Dann steckte ich den Schlüssel seufzend ins Schloss. Ich konnte nicht weglaufen – ich bin verantwortungsvoll und gewissenhaft. In einer Familie, in der mehrere schwarze Schafe um den ersten Platz rangelten, machte es keinen besonderen Spaß, das einzige weiße Schaf zu sein.
    Aus dem Fernsehraum kam dröhnender Lärm, und es klang, als wären all diejenigen, die zur Zeit im Haus wohnten – Mum, Dad, Helen und Anna –, auch anwesend.
    Helen lebte aufgrund ihres wechselhaften Glücks auf dem Stellenmarkt mit fünfundzwanzig noch zu Hause; sie hat immer wieder die Laufbahn gewechselt. Zwei oder drei Jahre hatte sie nutzlos an der Universität verbummelt, und nach einer kurzen Phase der Arbeitslosigkeit hatte sie es mit einer Karriere als Flugbegleiterin versucht, brachte es aber nicht fertig, freundlich genug zu sein. (»Hören Sie doch auf, dauernd zu klingeln, ich habe Sie schon beim ersten Mal gehört« – mit dieser Bemerkung endeten ihre hochfliegenden Karrierepläne.) Nach einer neuen Phase der Arbeitslosigkeit machte sie einen teuren Kurs als Visagistin und hoffte, beim Theater oder beim Film Arbeit zu bekommen, doch stattdessen wurde sie bei einer Hochzeit nach der anderen gebeten, die weiblichen Gäste zu schminken – meistens waren es die Töchter der Freunde meiner Eltern. Doch Mums Bemühungen, Helen Aufträge zu verschaffen, wurden nicht gewürdigt, und eines Tages
erzählte mir Mum voller Groll, Helen hätte geschworen, wenn sie noch einmal ein sechsjähriges Mädchen als Brautjungfer herrichten müsste, würde sie ihr (oder sich selbst, in dem Punkt drückte Mum sich nicht ganz klar aus) die Augen mit dem Eyeliner ausstechen.
    Helens Problem besteht darin, dass sie mit hoher Intelligenz, gekoppelt mit einer unglaublich kurzen Aufmerksamkeitsspanne, ausgestattet ist und ihre wahre Berufung noch nicht gefunden hat.
    Anders als Anna, die überhaupt eine Berufung finden muss, ob eine wahre oder eine andere. Sie hat sich jeder Ermutigung, einen Beruf zu ergreifen, widersetzt und sich ihren Lebensunterhalt als Kellnerin, Barfrau und Wahrsagerin zusammengestoppelt. Alles immer nur für kurze Zeit. Wahrscheinlich ist ihr Lebenslauf so umfangreich wie Krieg und Frieden .
    Als sie noch mit ihrem Freund Shane zusammen war, lebten die beiden ein freies Leben, von der Hand in den Mund. Sie gehörten zu den Menschen, die für zehn Minuten aus dem Haus gehen, um sich ein Kitkat zu kaufen, und sich als Nächstes aus Istanbul melden, wo sie in einer Gerberei