Auszeit für Engel: Roman (German Edition)
bis zwanzig Prozent aller Schwangerschaften enden mit einer Fehlgeburt.
»Aber warum?« Ich konnte nicht lockerlassen.
»So ist das in der Natur«, sagte er. »Der Fötus war sicherlich nicht gesund und wäre ohnehin nicht lebensfähig gewesen.«
Bestimmt war das tröstlich gemeint, aber mich empörte es. Für mich war mein Kind, wo immer es jetzt war, vollkommen.
»Aber ein zweites Mal passiert das nicht, oder?«, fragte Garv.
»Möglich ist es schon. Wahrscheinlich nicht, aber es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, es wird nicht passieren.«
»Aber es ist ja schon passiert.« Er meinte, wir hatten schon unseren Anteil an Pech gehabt.
»Dass es schon einmal passiert ist, ist keine Garantie dafür, dass es nicht noch ein zweites Mal passiert.«
»Vielen Dank«, sagte ich voller Bitterkeit.
»Und noch etwas«, sagte er matt.
»Was denn?«, fragte ich gereizt.
»Genau, was?«, sagte auch Garv.
»Stimmungsschwankungen.«
»Was ist mit denen?«
»Sie müssen mit ihnen rechnen.«
Ich untersuchte die letzten neun Wochen mit der Lupe und forschte nach Dingen, die ich falsch gemacht hatte. Hatte ich schwere Gegenstände getragen? War ich, ohne es zu wissen, mit der Achterbahn gefahren? War ich auf der Rötelnstation im Krankenhaus gewesen? Oder hatte es schlicht und einfach damit zu tun – was mir jetzt ganz unbegreiflich war –, dass ich das Kind anfangs nicht gewollt hatte und es das gemerkt hatte?
Ich ging zu einer Krankenschwester, die auch für Beratung zuständig war, und sie sagte, es wäre völlig unmöglich, dass ein Baby spüren könne, ob es gewollt ist. »Sie sind ganz schön zäh«, sagte sie. »Aber es ist normal, dass man sich selbst die Schuld gibt. Schuld gehört zu den Gefühlen, die man in einer solchen Situation hat.«
»Und was noch?«
»Ach, Wut, Trauer, Verlustgefühl, Frustration, Angst, Erleichterung –«
»Erleichterung?« Ich blitzte sie an.
»Nicht bei jedem. Hatte ich irrationale Wut schon erwähnt?«
Weil wir noch nicht vielen Leuten erzählt hatten, dass ich schwanger war, wussten jetzt auch nicht viele von der Fehlgeburt. Folglich behandelten unsere Freunde uns ganz normal, aber wir mussten irgendwie versuchen, mit dem Loch in unserem Leben zurechtzukommen.
Und es war ein Loch. Wir hatten uns schon Namen ausgedacht – Patrick für einen Jungen und Aoife für ein Mädchen.
Der errechnete Geburtstermin war der neunundzwanzigste April, und wir hatten uns schon Babysachen angeguckt und Gedanken über die Einrichtung des Kinderzimmers gemacht. Doch dann hatten wir plötzlich keine Verwendung mehr für die Tapete mit dem Teddymuster und die Lampen, die einen
Sternenhimmel an die Wand warfen, und es war sehr schwer, sich daran zu gewöhnen.
Noch schmerzlicher war, dass ich mich so gefreut hatte, mein Kind kennen zu lernen. Ich hatte dem Leben mit diesem neuen Menschen, der Teil von mir und Teil von Garv war, gespannt entgegengesehen, und jetzt war uns all das abrupt entrissen.
Man weiß ja, wie das ist, wenn der Freund einen sitzen lässt – plötzlich geht man durch die Welt und sieht überall Liebespaare, die sich an den Händen halten und sich küssen und mit Champagner anstoßen und sich gegenseitig Austern in den Mund stecken. Genauso erging es mir, als ich die Fehlgeburt hatte, denn plötzlich sah ich überall, an jeder Ecke, schwangere Frauen, reif und prächtig, die ihre großen Bäuche stolz vor sich hertrugen. Noch schlimmer war, dass ich überall, wohin ich guckte, Babys sah: im Supermarkt, auf der Straße, am Strand, beim Augenarzt. Perfekte kleine Wesen mit ihrem weichen Lächeln und der frischen, glatten Haut. Sie ruderten mit ihren pummeligen Ärmchen und klatschten in ihre dicken Händchen, sie strampelten sich die Socken von den Füßchen und stießen hohe Kreischlaute aus.
Manchmal ertrug ich es kaum, sie anzusehen, aber manchmal war es auch zu schmerzlich, wenn ich wegguckte. Garv und ich verschlangen sie mit gierigen Blicken und dachten jedesmal: Wir hätten auch beinahe so eins gehabt . Dann flüsterte Garv mir immer zu: »Wir müssen damit aufhören, die Leute werden schon misstrauisch, und gleich holt die Mutter die Polizei.«
Ich wollte am liebsten sofort wieder schwanger werden, damit wir fast so tun konnten, als hätten wir das Erste nicht verloren, und Garv sagte, er sei mit allem einverstanden, was für mich gut wäre. Also ging ich los und kaufte ein Thermometer, denn ich wollte nichts dem Zufall überlassen. Mein Leben drehte
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