Auszeit für Engel: Roman (German Edition)
nicht so – das wusste ich damals schon –, und es ist leicht, im Nachhinein kluge Reden zu schwingen.
Hin und wieder veranstalteten Abtreibungsgegner Märsche durch die Straßen Dublins und forderten, die Abtreibung in Irland noch illegaler zu machen, als sie es ohnehin schon war. Sie trugen Rosenkränze und hielten Plakate mit abgetriebenen Föten in die Höhe. Ich konnte nicht hinsehen. Aber als ich sie hörte, wie sie so heftig gegen die Abtreibung zu Felde zogen, hätte ich sie gern gefragt, ob jemand unter ihnen je in meiner Situation gewesen war. Ich war bereit zu wetten, dass dies nicht der Fall war. Und ich war überzeugt, dass ihre hohen Prinzipien ins Wanken geraten wären, wenn sie jemals in dieser Lage gewesen wären.
Was ich am beklemmendsten fand, waren die Männer – Männer, die gegen Abtreibung protestierten! Männer! Was wussten sie schon, was konnten sie wissen, von der Angst und dem Schrecken, den ich erlebt hatte? Sie konnten nicht schwanger werden.
Zu Hause sprach ich nie darüber, ich wollte keine Aufmerksamkeit auf das Thema lenken. Und auch Claire sagte nie etwas – wenigstens nicht, wenn ich dabei war.
Ende September ging Shay nach London, um Medienwissenschaften zu studieren. Das hatte er schon lange vorgehabt, denn irische Universitäten boten solche fantasievollen Kurse nicht an.
»Dadurch ändert sich nichts«, versprach er, als wir uns am Fährhafen verabschiedeten. »Ich schreibe ganz oft, und wir sehen uns Weihnachten.«
Aber er schrieb nicht. Irgendwie hatte ich das schon geahnt – noch bevor er fuhr, hatte ich Träume, in denen ich versuchte, ihn festzuhalten –, aber als es dann so eintrat, weigerte ich mich, es zu glauben. Sieben Wochen wartete ich jeden Tag auf Post, und dann begrub ich meinen Stolz und ging zu seiner Mutter, um ihr einen Brief für ihn zu geben. »Vielleicht habe
ich an die falsche Adresse geschrieben«, sagte ich. Aber sie prüfte die Adresse, und sie stimmte.
»Haben Sie von ihm gehört?«, fragte ich und zuckte zusammen, als sie überrascht sagte, selbstverständlich habe sie von ihm gehört, er komme blendend zurecht.
Ich richtete meine Hoffnung jetzt auf das Wiedersehen zu Weihnachten. Vom zwanzigsten Dezember an war ich ein Nervenbündel und wartete unablässig darauf, dass das Telefon klingelte oder jemand an der Haustür klopfte. Als das nicht geschah, begann ich, an seinem Haus vorbeizugehen, hügelan, hügelab; ich zitterte vor Kälte und Aufregung am ganzen Körper und hoffte verzweifelt, ihm zu begegnen. Als ich Fee, eine seiner Schwestern, sah, hielt ich sie an und fragte sie mit hoher, zittriger Stimme, aber bemüht um einen lässigen Ton: »An welchem Tag kommt Shay nach Hause?«
Sie sah mich verwirrt an und klärte mich auf. Er würde gar nicht kommen, er hatte einen Ferienjob. »Ich dachte, das wüsstest du«, fügte sie hinzu.
»Ach, ich hatte gedacht, vielleicht würde er es ja schaffen, für ein paar Tage herzukommen.« Ich fühlte mich so gedemütigt, dass ich stotterte.
Ostern, dachte ich, Ostern wird er kommen. Aber er kam nicht. Dann im Sommer. Ich wartete sehr lange auf ihn, die meisten Menschen hätten die Hoffnung schon längst aufgegeben.
Inzwischen hatte ich eine Stelle gefunden und mich mit Donna, einem Mädchen im Büro, angefreundet. Wie meine anderen Freundinnen, Emily und Sinead, ging sie gern aus, wollte Jungen kennen lernen und sich amüsieren. Oft schloss ich mich ihnen an, und wenn ein anständig wirkender Junge mit mir ausgehen wollte, drängten sie mich einzuwilligen; es ergab sich nicht viel daraus. Ich lernte jemanden kennen, der Colm hieß und mir zum Geburtstag ein Feuerzeug mit Namenszug schenkte, obwohl ich nicht rauchte. Dann traf ich mich sechs Wochen lang mit einem Mann, der mich fallen ließ, als ich mich weigerte, mit ihm zu schlafen. Der danach war ein Süßer, der Anton hieß, obwohl er kein Ausländer war. Ich war bestimmt zehn Zentimeter größer als er, und er wollte
immer mit mir spazieren gehen. Mit ihm habe ich auch geschlafen – wahrscheinlich, so vermutete ich im Nachhinein, weil es mir zu peinlich war, neben ihm aufrecht zu gehen.
Aber obwohl ich mich rechtschaffen bemühte, konnte ich mich für keinen von ihnen begeistern.
Der Strom des Lebens wollte mich nach vorn reißen, aber ich widerstand. Ich wollte lieber in der Vergangenheit verweilen, denn noch war ich nicht überzeugt, dass es die Vergangenheit war. Und niemals hätte ich geglaubt, als ich mich am Fährhafen
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