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Auszeit für Engel: Roman (German Edition)

Auszeit für Engel: Roman (German Edition)

Titel: Auszeit für Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marian Keyes
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war, konnte ich mir erlauben, Gefühle für das Kind zu zeigen. Aus irgendeinem Grund hatte ich beschlossen, dass es ein Junge geworden wäre, und als ich mir laut Gedanken darüber machte, ob er mir oder Shay ähnlicher gesehen hätte, wand Shay sich unbehaglich.
    Am Sonntagmorgen machten wir uns auf die Rückreise, und am Abend waren wir in Irland. Es war fast unglaublich, dass ich zwei Tage nach meiner Abfahrt wieder in meinem Zimmer stand, wo alles täuschend, ja, verblüffend normal aussah. Auf meinem kleinen Schreibtisch türmten sich die Bücher, denen ich mich dringend widmen musste; hier war meine Zukunft, sie war nie weg gewesen, und ich brauchte sie nur wieder in Angriff zu nehmen. Auf der Stelle, noch am gleichen Abend, klemmte ich mich hinter die Bücher und fing an zu lernen – nur noch sechs Wochen bis zu den Prüfungen. Doch in den folgenden Tagen passierten seltsame Dinge. Überall hörte ich Babygeschrei – in der Dusche, im Bus, aber wenn ich das Wasser abdrehte oder der Bus anhielt, hörte das Weinen auf.
    Ich erzählte Shay davon, aber er wollte davon nichts wissen. »Vergiss es«, drängte er. »Du hast Schuldgefühle, aber du darfst nicht zulassen, dass sie dich auffressen. Denk einfach an deine Prüfungen. Es sind nur noch ein paar Wochen.«
    Ich schluckte also mein Bedürfnis, darüber zu sprechen, hinunter und versuchte mich zu überzeugen, dass ich richtig gehandelt hatte; stattdessen zwang ich mich, eine Liste über die Anzahl der Stunden zu führen, die ich mit meinen Studien zugebracht hatte. Wenn der Drang, über unser Kind zu sprechen, sehr groß wurde, fragte ich Shay etwas über Hamlet oder die frühen Gedichte von Yeats, und er hielt mir lange Vorträge, in denen er meistens die Ideen aus der Sekundärliteratur wiedergab.
    Ich überstand die Prüfungszeit, in der das richtige Leben ausgesetzt war, und dann war alles vorbei. Ich kam aus der Schule, ich war erwachsen, mein Leben stand vor mir. Während wir auf die Ergebnisse warteten, verbrachten Shay und ich fast alle Zeit zusammen. Wir sahen zusammen viel fern – sogar an warmen, sonnigen Tagen, wenn der Sonnenschein
nach draußen einlud und das braune Kordsofa und der braune Teppich lächerlich schienen, saßen wir vor der Kiste.
    Wir schliefen nie mehr zusammen.
    Mitte Juni kamen die Ergebnisse – Shay hatte hervorragend abgeschnitten, ich miserabel. Nicht gerade katastrophal, aber ich war immer eine so gute Schülerin gewesen, dass alle große Hoffnungen in mich gesetzt hatten. Meine Eltern waren verwirrt und begannen sofort, meine schlechten Noten herunterzuspielen. Woher sollten sie auch wissen, dass ich die letzten sechs Wochen vor den Prüfungen damit zugebracht hatte, in meinem Zimmer zu sitzen und eingebildetem Babyweinen zu lauschen.
    Die Nachwirkungen hielten lange an. Praktisch in dem Moment, da ich nicht mehr schwanger war, stellten sich Schuldgefühle und Bedauern ein, und ich dachte immer häufiger, dass es vielleicht nicht so schlecht gewesen wäre, wenn ich das Kind bekommen hätte. (Gleichzeitig war mir halbwegs klar, dass ich mir nichts sehnlicher wünschen würde, als nicht schwanger zu sein, wenn ich noch schwanger wäre.)
    Widersprüche zerrten mich hierhin und dorthin. Obwohl ich das Gefühl hatte, dass es mein Recht war, abtreiben zu lassen, wurde ich doch von quälerischen Gedanken geplagt. Denn selbst wenn ich von nun an völlig untadelig lebte, würde dies immer Teil meines Lebens sein. Ich fand nicht das richtige Wort; »Sünde« war es nicht, weil das bedeutete, gegen das Gesetz eines anderen zu verstoßen. Aber ich hatte gegen mich selbst verstoßen, und ich würde immer eine Frau sein, die eine Abtreibung gehabt hatte.
    Ich fühlte mich in dieser Unumkehrbarkeit so gefangen, dass ich mich mit dem Gedanken an Selbstmord trug. Nur kurz, aber in den wenigen Sekunden wollte ich es aufrichtig. Es fühlte sich an, als wäre ich für alle Zeit an eine Schmach, an etwas Schmerzvolles gefesselt. Es war nicht vergleichbar mit einem Eintrag im Führerschein oder einem Aktenvermerk bei der Polizei, der in fünf oder zehn Jahren gelöscht würde. Dies konnte nicht berichtigt werden. Es war nicht zu berichtigen.
    Und dennoch … gleichzeitig war ich froh, dass ich kein Kind hatte, das ich versorgen musste. Aus tiefstem Herzen wünschte
ich mir, dass ich nie eine Entscheidung hätte treffen müssen. Und natürlich war es meine Schuld, ich hätte meine Beine nicht breit machen dürfen, aber das Leben ist

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