Auszeit für Engel: Roman (German Edition)
auch Erleichterung darüber, dass nicht sie in dieser Lage waren, dass ich mir wieder einmal wünschte, dies möge ein schrecklicher Traum sein, aus dem ich, zitternd vor Erleichterung, weil es alles nicht wahr war, erwachen würde.
Sie rieten mir, mit Claire zu sprechen, die im letzten Collegejahr
war und sehr entschiedene Ansichten über die Rechte der Frauen und die Haltung der Kirche vertrat. Eine Zeitlang dozierte sie so oft über das Recht auf Abtreibung, dass Mum sagte: »Die wird noch schwanger, nur damit sie eine Abtreibung machen lassen kann, zum Beweis.«
Ich erzählte also Claire, dass ich schwanger war, und sie war sprachlos. In einer anderen Situation hätte man es komisch finden könnten, aber damals war daran nichts Komisches. Claire brach sogar in Tränen aus, so dass am Ende ich sie trösten musste. »Es ist so traurig«, weinte sie. »Du bist noch so jung.«
Claire besorgte die nötigen Informationen für Shay und mich, und wir konnten die Reise, entgegen unseren Erwartungen, ohne große Umstände vorbereiten. Eine Last war mir von den Schultern genommen – ich würde das Kind nicht bekommen und mit den Konsequenzen leben müssen –, aber dann brachen andere, neue, schreckliche Sorgen über mich herein. Ich war katholisch erzogen, aber irgendwie hatte ich bis dahin die sonst üblichen Gefühle von Angst und Schuld vermieden. Ich hatte immer geglaubt, dass Gott ein recht anständiger Typ sein musste, und die Tatsache, dass ich mit Shay schlief, verursachte mir nur geringe Schuldgefühle, weil ich der Ansicht war, Gott hätte uns nicht die Lust gegeben, wenn er nicht wollte, dass wir sie auch erlebten. Den Glauben an die Hölle hatte ich schon längst aufgegeben, doch plötzlich begann ich zu zweifeln, und alle möglichen Gefühle, die mir ganz fremd waren, kamen in mir hoch.
»Ist das eine ganz schlimme Tat?«, fragte ich Claire und hatte Angst vor der Antwort. »Bin ich … eine Mörderin?«
»Nein«, versicherte sie mir. »Es ist noch kein Mensch. Es ist lediglich ein Zellklumpen.«
Voller Unbehagen klammerte ich mich an den Gedanken, und Shay und ich besorgten das Geld für die Reise. Mir fiel das nicht schwer, weil ich so sparsam war, und ihm fiel es nicht schwer, weil er so charmant war. Und an einem Freitagabend im April – meine Eltern glaubten, dass ich mit Emily zu einem Wochenendkurs fuhr – brachen Shay und ich nach London auf.
Einen Flug konnten wir uns nicht leisten, also fuhren wir
mit dem Schiff. Es war eine lange Fahrt – vier Stunden auf dem Schiff, dann sechs Stunden mit dem Zug –, und die meiste Zeit saß ich kerzengerade auf meinem Platz und glaubte fest, ich würde nie wieder schlafen. Irgendwann hinter Birmingham nickte ich, an Shays Schulter gelehnt, ein und wachte erst wieder auf, als der Bus durch Londoner Vorortstraßen fuhr, an denen Wohnblocks aus rotem Backstein standen. Es war Frühling, die Bäume waren von einem überraschend leuchtenden Grün und die Tulpen blühten. Noch heute fahre ich ungern nach London. Jedesmal wenn ich dort bin, werden meine Gefühle von damals und die Erinnerung an meine erste Begegnung mit London wieder geweckt. Es gibt diese roten Backsteinhäuser überall, und jedesmal frage ich mich: Waren es diese, die ich damals gesehen habe?
Ich kam zu Bewusstsein – es war, als würde ich unter Wasser zur Oberfläche schwimmen – und hörte mein eigenes Weinen. Laute, wie ich sie noch nie hervorgebracht hatte, drangen aus meinem Inneren. Benommen und noch halb narkotisiert lag ich da und hörte mir selbst zu. Bald würde ich aufhören.
Und Schmerz. Empfand ich Schmerz? Ich horchte in mich hinein, und da war ganz unten ein ziehender, krampfartiger Schmerz.
Wenn ich fertig damit war, diese Laute aus mir herauszupressen, dann würde ich mich um den Schmerz kümmern. Oder vielleicht würde jemand zu mir kommen. In diesem Krankenhaus, das kein Krankenhaus war, würde doch eine Krankenschwester, die keine Krankenschwester war, mich hören und zu mir kommen.
Aber es kam niemand. Und fast ein wenig verträumt, so als machte jemand anders diese Geräusche, lag ich da und lauschte. Dann musste ich eingeschlafen sein, denn als ich das nächste Mal aufwachte, war ich still. Erstaunlicherweise ging es mir fast wieder gut.
Am Samstagabend, als Shay mich abholte und mit mir in die Pension ging, wo wir die Nacht verbringen würden, war er unglaublich zärtlich. Ich war erleichtert, aber ich weinte trotzdem;
erst nachdem alles vorbei
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