Auszeit
Unabhängigkeit und Freiheit – wenn auch über das Maß des »Not-wendigen« sehr unterschiedliche Vorstellungen herrschen. Viele meinen, nie genug zu haben, andere kommen mit sehr wenig aus, und zum Diogenes oder Franz von Assisi sind wohl die wenigsten geboren.
Ein weiser Mann hatte den Rand seines Dorfes erreicht und ließ sich unter einem Baum nieder, um dort die Nacht zu verbringen, als ein Dorfbewohner angerannt kam und sagte: »Der Stein! Der Stein! Gib mir den kostbaren Stein!«
»Welchen Stein?«, fragte der weise Mann.
»Letzte Nacht erschien mir Gott Shiwa im Traum«, berichtete der Dörfler, »und sagte mir, ich würde bei Einbruch der Dunkelheit am Dorfrand einen weisen Mann finden, der mir einen kostbaren Stein geben würde, sodass ich für immer reich wäre.«
Der weise Mann durchwühlte seinen Sack und zog einen Stein heraus.
|86| »Wahrscheinlich meinte er diesen hier«, sagte er, als er dem Dörfler den Stein gab. »lch fand ihn vor einigen Tagen auf einem Waldweg. Du kannst ihn natürlich haben.«
Staunend betrachtete der Mann den Stein. Es war ein Diamant und sogar ziemlich groß. Er nahm den Diamanten und ging weg. Die ganze Nacht wälzte er sich im Bett und konnte nicht schlafen.
Am nächsten Tag weckte er den weisen Mann bei Anbruch der Dämmerung und sagte: »Gib mir den Reichtum , der es dir ermöglicht, diesen Diamanten so leichten Herzens wegzugeben.«
Das Entscheidende im Leben, so die Botschaft dieser Parabel, ist aber nicht der äußere, sondern der innere Reichtum, im Sinne von Erfüllung, Freude, Zufriedenheit und Seelenfrieden – also das, was das eigentliche »Glücklichsein« bedeutet, das letztlich unabhängig ist von äußeren Umständen. Wer viel von diesem inneren Reichtum hat, braucht den äußeren kaum noch und kann ihn gelassen abgeben – was aber nicht notwendigerweise heißt, dass er ihn nicht doch haben kann. Jedenfalls gilt: Je größer der innere Reichtum, desto geringer der Bedarf am äußeren!
Und doch stehen innerer und äußerer Reichtum in keinem Entweder-oder-Verhältnis . Auch der so häufig fehlinterpretierte Satz aus dem Neuen Testament: »Du kannst nicht Gott und dem Mammon dienen« bedeutet ja in erster Linie nur, dass man dem Geld und äußeren Reichtum nicht »dienen« soll, sich davon also nicht abhängig machen oder versklaven lassen soll. Sehr wohl kann eine innerlich reiche Person auch äußerlich reich sein und diesen Reichtum genießen. Meist kann man dabei feststellen, dass diese Menschen aus ihrer inneren Fülle heraus die äußeren finanziellen Mittel auch für andere Menschen oder eine Aufgabe in der Welt einsetzen – was dann gleichzeitig ihren inneren Reichtum mehrt.
|87| Außerdem ist mit der Aufgabe materieller Güter nicht automatisch die Erlangung innerer Erfüllung verbunden. Allenfalls wird in gewisser Weise wieder Platz geschaffen für inneres (Er-)Leben, also Raum für die Entfaltung des inneren Reichtums. Solange sich fast alles nur um den äußeren Reichtum dreht, kommt unsere Seele oft zu kurz und wird, bildlich gesprochen, von den Diamanten erstickt.
Die Gefahr ist also nur die Abhängigkeit von äußerem Reichtum. Sie tritt in der Regel dann ein, wenn im Inneren kein ausreichendes Gegengewicht besteht. Ein möglicher Schlüssel liegt in der Balance von äußerem und innerem Reichtum:
Je größer der innere Reichtum, desto mehr äußeren kann man vertragen und »aushalten«, ohne davon abhängig zu sein. Ja, umso intensiver wird man diesen möglicherweise sogar erleben. Denn je größer der »Innenraum« eines Menschen, desto stärker kann dieser auch als Resonanzraum für das Äußere in seinem Leben wirken.
Je geringer der innere Reichtum, umso größer wird das Anhaften und Anklammern an äußere Sicherheiten – mit denen sich viele dann immer mehr vom »eigentlichen« Leben mit all seinen Schwierigkeiten und Schattenseiten abschirmen und von ihrer inneren Leere ablenken; meist, ohne sich dessen bewusst zu werden, da es ein sukzessiver Prozess ist. So wird über das Investment in immer teurere Musikanlagen das Eigentliche – die Musik – mehr und mehr vergessen.
Die Kunst im Leben könnte also darin bestehen, für die notwendigen finanziellen Mittel zu sorgen, um »menschenwürdig« leben zu können, gleichzeitig aber auch für seinen inneren Reichtum zu sorgen, für Erfüllung, Zufriedenheit und das wiederholte Auftanken der Seele. Und schließlich beide so gut es geht im Gleichgewicht zu halten, um aus der
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