Autobiografie einer Pflaume - Roman
Sonnenstrahlen, und ich spüre etwas, als würde man meine blonden Haare streicheln, und ich mache die Augen auf und sehe meinen eigenen Engel.
«Ich habe Licht angemacht», sagt Camille.«In deinem Zimmer ist es stockfinster.»
«Pass auf, dass Rosy dich nicht sieht. Wenn sie dich erwischt …»
«Kein Problem, sie sind alle in der Küche. Ich habe gesagt, mir wäre nicht gut.»
«Ist das wahr?»
«Nein», sagt Camille lächelnd.«Und wie geht es dir? Du hast es vielleicht gut, den ganzen Tag im Bett zu bleiben!»
«Ich weiß nicht, ob es so schön ist, dich nicht zu sehen.»
Und Camille küsst mich behutsam auf den Mund.
«Vorsicht!», sage ich.«Nicht dass du dich ansteckst!»
«Feigling! Du hast doch nur Angst vor Rosy!»
«Ja», sage ich.
Wenn man uns beide hier erwischt, gibt es gewaltigen Ärger. Und gleichzeitig möchte ich ihren Mund essen, und wir schauen uns mit weit aufgerissenen Augen an. Ich nehme ihr Gesicht zwischen die Hände, als wäre es eine Salatschüssel, die ich nicht fallen lassen darf. Ich öffne die Augen ganz weit, als wir uns küssen. Mein Herz muss gleich explodieren, und ich denke mir, dass ein Heimwehstreuer uns so umarmt erwischen wird, und das macht mir Angst und ist super, und ich habe das Gefühl, dass die Zeit aus der Geschichte stehen geblieben ist, um diesen Kuss andauern zu lassen, und dann springt Camille vom Bett.
«Ich habe was gehört.»
«Das war mein Herz.»
«Nein, es klang eher wie Rosys Schritte.»
«Wer ist denn der Feigling?», frage ich lachend, und dann höre ich das Geräusch auch und rufe Camille zu:«Versteck dich hinter dem Bett», und Rosy kommt herein, und das war verdammt knapp.
«Geht es dir gut, mein Kleiner?»
«Ja, ich bin nur ein bisschen müde.»
Sie bückt sich, um das Tablett aufzuheben, und ich halte den Atem an, für den Fall, dass sie Camille atmen hören sollte.
Sie sagt:«Ich bringe dir gleich deinen Nachmittagskakao.»
Und sie geht, und mir ist, als würde ich vor Angst oder was auch immer sterben.
«In Ordnung, sie ist weg», sage ich.
Aber hinter dem Bett ist keine Camille.
Sie ist also doch ein Engel. Sie muss weggeflogen oder verschwunden sein.
Simon sagt:«Manchmal ist es, als würde alles in Zeitlupe vor sich gehen. Das nennt man Langeweile.»
Ich bin nicht seiner Meinung.
Ich wache auf. Ich putze mir die Zähne. Ich wasche mich. Rosy prüft nach, ob ich beim Waschen auch nicht die Seife vergessen habe. Ich frühstücke. Ich schaue Camille an. Ich laufe zum Bus. Ich lerne, dass Wörter mit gleichen Endungen in der Einzahl ganz verschiedene Endungen in der Mehrzahl haben. (Das muss man wissen, damit man nicht denkt, die Endungen würden einem weiterhelfen.) Dann ist Pause. Ich spiele mit den anderen Jungen Schussern oder Verstecken. Nicht mit Camille. Der Unterricht geht weiter. Monsieur Paul erklärt uns die Elektrizität. Ich verstehe kein Wort. Pauline ist gegangen, ohne sich von uns zu verabschieden. Niemand weint ihr nach. Rosy schon gar nicht. Ich erzähle Madame Papineau, wie ich mir bei den Experimenten von unserem Lehrer einen Stromschlag geholt habe. Ich darf mir von ihren Süßigkeiten nehmen. Beim Nachmittagskakao schaue ich Camille an. Ich feiere den Geburtstag von Jujube. Den von Boris. Und den von Alice. Zusammen mit Simon und Ahmed mache ich meine Hausaufgaben. Am Montagabend sehe ich fern. Am Dienstag gehe ich schwimmen. Und am Wochenende mit Camille zu Raymond.
Und das ist alles schon vorbei, und Simon will mir weismachen, dass sich das alles in Zeitlupe abspielt?
Außerdem ist Simon immer gerade da, wo er nichts zu suchen hat. Man könnte fast meinen, dass er es mit Absicht tut. Wenn Madame Papineau mit Pauline über den Monsieur spricht, der dienstags an ihr herumknutscht, wenn wir im Schwimmbad sind, geht er den Flur entlang und versteckt sich hinter der offenen Tür.
«Das haben Sie alles von Rosy», sagt Pauline.«Ich wette, dass Sie das alles von ihr haben.»
«Woher ich es habe, ist völlig nebensächlich», sagt die Direktorin.«Ihre Aufgabe ist es, auf die Kinder im Schwimmbad aufzupassen. »
«Immer mit der Ruhe, Michel war bei ihnen, schließlich ist niemand ertrunken!»
«Was Sie in Ihrer Freizeit tun, geht mich nichts an. Aber ich lege keinen Wert darauf, dass alle Kinder Ihrem Techtelmechtel mit einem Fremden zusehen können.»
«Er ist kein Fremder. Sie kennen ihn selber, es ist …»
«Das interessiert mich überhaupt nicht. Ihr Betragen ist nicht das einer
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