Autobiografie einer Pflaume - Roman
die große Blondine verschwunden und Vögel fliegen heraus. Ein großer Lichtstrahl fällt quer durch das Zelt bis ans obere Ende der Treppe, und siehe da, dort oben steht die große Blondine, und sie hat sogar Zeit gehabt, sich als Rotkäppchen zu verkleiden, und sie lutscht an einer riesigen Zuckerstange, als sie die Stufen hinunterkommt. Auf der Bühne lässt
sie den roten Umhang fallen, und Rosy sagt:«Das ist kein Anblick für Kinder.»
Aber das mit den Pailletten dauert nicht lange, denn der Zauberer lässt sie in eine Kiste steigen, aus der nur ihre Füße und ihr Kopf herausragen. Und die bewegt sie hin und her, als wäre es in der Kiste supergemütlich. Und als der alte Zauberer eine riesengroße Säge über ihr schwingt und wieder ein Trommelwirbel geschlagen wird, kichert sie, als wäre das alles furchtbar komisch. Der Zauberer schneidet sie seelenruhig in zwei Stücke, und ich denke mir, dass Raymond, der Gendarm, eingreifen wird, um der dummen Kuh zu helfen, aber er denkt nicht daran, sondern lacht auch, und ich bin fassungslos. Der Zauberer nimmt die zwei Kisten auseinander, in denen sich die Füße und der Kopf bewegen. Das, was von der großen Blondine übrig ist, rollt mit den Augen von rechts nach links, und alle klatschen Beifall, nur ich nicht.
Für so etwas werde ich nicht noch klatschen.
Und da schiebt der Zauberer die zwei Kisten wieder aneinander, wedelt mit dem Zauberstab und sagt dazu:«Abrakadabra», und die große Blondine, die ein bisschen dämlich aussieht, steigt quietschfidel aus der Kiste und hebt sogar ihren Paillettenanzug an, um uns zu zeigen, dass sie unverletzt ist, und ich denke mir, dass ich später einmal Zauberer werden will, weil das noch besser ist als der liebe Gott, der den Leuten nur zuhört, ohne ihnen ihre Wünsche zu erfüllen.
Ich mache ein Auge zu und dann das andere, als der Monsieur auf der Schaukel hin- und herschwingt und dabei eine Dame an den Händen hält und sie auf eine zweite Schaukel wirft. Ich habe das Netz unter ihnen gesehen, aber mir ist jetzt noch ganz anders zumute. Trapezkünstler ist ein komischer Beruf. Wer sein Leben damit verbringt, in der Leere herumzuturnen, damit ihm die Leute Beifall klatschen, der muss wirklich«Erbsen im Kopf haben», wie Rosy manchmal von uns
sagt. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass sie sogar auf einem großen Stahlseil über dem Netz Fahrrad gefahren sind. Und um es noch schwieriger zu machen, ist die Dame dem Monsieur auf die Schultern geklettert und hat sich dann aufgerichtet.
Das ist mehr, als ich ertragen kann.
Ich mache die Augen zu.
Als ich sie aufmache, bin ich im Maul des Löwen. Oder so gut wie.
Der Peitschenknall hat mich geweckt.
Der Löwe weicht zurück und klettert auf das Sprungbrett.
Ich schaue meine Freunde an, und ihre Blicke sind voller Entsetzen.
Die Russische Bergbahn war mir lieber. Da mischen sich wenigstens Schrecken und Vergnügen.
Und jetzt verlangt der Monsieur mit seiner Peitsche vom Löwen, dass er springt, und ich an seiner Stelle würde es nicht riskieren, durch einen Feuerreifen zu springen. Der Löwe bewegt sich mit ganz langsamen Pfoten auf dem Sprungbrett, und man sollte meinen, dass er überlegt, ob er springen soll oder lieber nicht, und dann, hopp!, springt er so geschmeidig wie eine Katze durch den brennenden Reifen, ohne sein schönes Fell zu versengen, und die Nummer ist zu Ende.
Der Monsieur in dem Mantel aus Licht kommt mit den zwei Clowns wieder, und sie hoffen ins Mikrofon, dass wir uns gut amüsiert haben, und die Clowns machen Purzelbäume rückwärts, und der Monsieur winkt uns zum Abschied zu, und Ahmeds Stimmchen ist zu hören:«Ist es zu Ende?», und der Monsieur in der Kleidung aus Licht antwortet:«Nein, mein Kleiner, der Zirkus ist nie zu Ende.»
Und jetzt verstehe ich, warum Rosy manchmal zu uns sagt:«Was soll dieser Zirkus? Nimmt das denn nie ein Ende?»
Raymond will mir nicht sagen, wohin wir fahren.
Ich weiß, dass es sich um eine«Überraschung»handelt und dass Camille und ich früh in Fontaines abgeholt werden,«damit wir jeden Sonnenstrahl ausnutzen können».
Überraschungen mag ich nicht besonders. Manchmal sind es Enttäuschungen: Unten in der Wundertüte ist nur ein Plastikei mit einem Soldaten drin. Oder man kriegt zu starkes Herzklopfen und kämpft mit den Tränen und kann nichts mehr essen wie bei dem Schokoladenkuchen von Ferdinand bei meinem Geburtstag.
Ich lasse nicht locker am Telefon.
Raymond
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