Autobiografie einer Pflaume - Roman
zu stolz ist, um Madame Papineau zu fragen, die seine Mama gut gekannt hat.
Ich an seiner Stelle hätte sie mit Fragen gelöchert.
Aber für Simon kommt das nicht in Frage.
Es ist kein Kunststück zu sagen, Fontaines wäre ein Knast, wenn man sich nicht die Mühe macht, die Gitterstäbe zu durchsägen, um hinauszugelangen.
Und bei den Erwachsenen ist es auch so.
Lauter Fragezeichen ohne Antworten, weil alles im Kopf eingesperrt bleibt und nie zum Mund herauskommt. Und hinterher kann man auf den Gesichtern die ganzen Fragen lesen, die nie gestellt wurden, und das bedeutet nichts als Unglück und Traurigkeit.
Die Falten sind nichts anderes als eine Kiste voller ungestellter Fragen, die sich im Lauf der vergehenden Zeit gefüllt hat.
Antoinette fragt auch nie. Sie summt lieber.
Und ich kann sehen, dass ihr Gesicht von Zeit zu Zeit ganz grau wird, als würde die Sonne sich auf einmal hinter den Wolken verstecken.Wenn sie summt, ist sie anderswo, und ihr ganzes Gesicht strahlt, auch wenn es aussieht wie ein verschrumpelter Apfel.
Wenn ich einmal alt bin, dann werde ich immer zehn Jahre alt sein und alle möglichen dämlichen Fragen stellen und keine einzige Falte haben.
«Woran denkst du?», fragt Camille und streckt sich mit allen vieren wie die Katze.
«An nichts», lüge ich.
«Du siehst aber nicht aus, als würdest du an nichts denken.»
«Und wie sehe ich aus?»
«Wie jemand, der an etwas Ernstes denkt. Deine Nase ist ganz kraus, und dein Mund ist verzogen wie ein Froschmaul.»
«Das siehst du bei mir?»
«Ja, nicht zum ersten Mal. Pass auf, eines Tages bleibt dein Gesicht so, und dann siehst du immer so aus.»
Sie schaut mich von unten an und macht die Grimasse nach, und es sieht nicht sehr hübsch aus.
«So sehe ich aus?»
«Ja.»
Und sie lacht.
Und ich sehe in der Ferne das Meer und bin völlig aus dem Häuschen.
Ich habe es schon so oft im Film gesehen, aber das ist etwas ganz anderes.
Mama wollte nie mit mir ans Meer fahren. Sie hat immer gesagt, es wäre zu teuer und zu gefährlich wegen dem Sohn von der Dame aus der Fabrik, der in eine Welle geraten ist, wo es so ähnlich war wie in der Waschmaschine.
Das Meer ist riesengroß.
Es ist nicht meine Schuld, wenn es im Fernsehen so klein aussieht.
Ich bin sicher der einzige kleine Junge, der noch nie am Meer war.
Und deshalb gebe ich mich ganz cool. Ich gehe am Strand entlang und bleibe stecken und habe die Schuhe voller Sand.
«Warum behältst du die Schuhe an?», fragt Camille, die barfuß ist und ihre Sandalen in der Hand hält.
Ich sehe mich um.
Ich bin der Einzige, der Schuhe an den Füßen hat, bis auf Antoinette, die von Raymond getragen wird und in deren Stiefeln sich die Sonne spiegelt.
Am Wasser gehen Leute im Badeanzug (wohin, weiß ich nicht) mit nackten Füßen, die im Wasser ertrinken.
Und außerdem liegen lauter Tote reglos auf ihren Handtüchern.
Ich ziehe alles aus bis auf die Unterhose.
Raymond setzt Antoinette im Schatten des großen gelben Sonnenschirms in ihren Liegestuhl. Wir Kinder legen ein wei ßes Badetuch auf den Sand. Alle unsere Kleider bis auf die von Antoinette hängen unter dem Sonnenschirm.
Sie sagt:«Badeanzüge sind nichts mehr für mich.»
«Geh doch einfach ohne», sage ich.
«Pflaume! Willst du, dass die Sonne sich vor Schrecken versteckt? »
Und sie lacht, und man sieht, dass in ihrem Mund nicht mehr viele Zähne sind.
Ich schaue den weichen Bauch von Raymond an. Wie ein schlaffer Ballon. Auf seiner Brust und seinen Schultern hat er eine Haarmatte, und das sieht komisch aus auf der Haut, die so weiß ist wie die Zähne von Béatrice.
Camille nimmt mich an der Hand, und wir laufen bis zum Meer.
Mit dem Schwimmbad hat das nichts zu tun: Das Wasser ist superkalt und supergrau.
Die Sonne könnte sich ruhig ein bisschen ins Wasser hängen, statt da oben am Himmel anzugeben.
«Du Feigling», ruft Camille, die sich ins Wasser stürzt.
«Du wirst schon sehen, ob ich ein Feigling bin», sage ich und laufe ins Wasser, und eine Welle stellt mir ein Bein und wirft mich um.
«Das ist supergroß», sage ich.
«Was?»
«Das Meer. Im Schwimmbad sieht man den Beckenrand.»
«Ja, aber hier haben wir mehr Platz, um Purzelbäume zu machen.»Und Camille verschwindet im Wasser.
«Es ist megakalt», sagt Victor zähneklappernd.
«Spinnst du», sage ich,«du hast mich erschreckt.»
«He, hallo, Papa! Wir sind hier!»
Ich kann nur sehen, denn bei Victors Geschrei kann ich nichs mehr
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