Autobiografie einer Pflaume - Roman
nicht zu weit weg. In meinem Alter sieht man nicht mehr sehr gut.»
Da soll sich einer auskennen! Manchmal sagt Antoinette, dass sie viel weiter sieht, als man denkt, und andere Male sagt sie das Gegenteil.
Wir versuchen uns gegenseitig ins Wasser zu werfen, aber ohne Raymond ist es nicht so lustig. Wir versuchen Flugzeug zu spielen, aber unsere Arme haben keine Kraft und können nichts stemmen. Aus dem Flugzeug wird ein U-Boot.
Wir setzen uns auf den Strand, die Ellbogen im Sand und die Beine im Wasser, und schauen einem großen Schiff in der Ferne zu, das langsam vorbeifährt.
«In den Sommerferien nimmt Papa mich an das warme Meer mit.»
«Du hast es gut», sage ich und streue mir Sand über die Beine.
«Ja, und Antoinette kommt auch mit. Wir wohnen in einem kleinen Haus, und das warme Meer ist nicht ganz nah, aber man kann es vom Fenster aus sehen.»
«Wie ist das warme Meer?», frage ich dummerweise.
«Na, warm eben. Du stellst manchmal vielleicht Fragen. Warst du etwa noch nie dort?»
«O doch, schon oft», lüge ich.
«Das stimmt nicht, Pflaume», sagt Camille.«Du bist rot geworden wie beim Lügen.»
«Das kommt von der Sonne.»
«Du hast dich nicht gesehen, als wir angekommen sind, aber ich habe dich gesehen. Du hast die Augen ganz weit aufgerissen. Ich wette, dass du noch nie am Meer warst.»
«Das stimmt nicht», sage ich ganz leise.
«Du warst noch nie am Meer?», fragt Victor, als hätte ich noch nie ein Ei oder noch nie Gras gesehen.
«Das macht doch nichts», flüstert Camille.«Wir machen uns nicht über dich lustig.»
«Ich sage dir doch, dass ich schon total oft am Meer war.»
«Und wo?»
«Weiß ich nicht mehr.»
«Papa!», ruft Victor,«Pflaume war noch nie am Meer!»
«Halt den Mund», sage ich.
«Victor!», ruft Antoinette.«Dein Papa schläft wie ein Säugling. Lass ihn in Ruhe.»
«Wer soll bei diesem Radau wie ein Säugling schlafen?», brummt der Gendarm, der sich aufsetzt.
«Papa, Pflaume hat noch nie das Meer gesehen.»
«Ist das wahr, mein Junge?», fragt Raymond.
Und er setzt sich neben mir ins Wasser, mit hängenden Schultern und schlaftrunkenem Blick.
«Ja», sage ich leise und vergrabe meine Zehen im Sand. Am liebsten würde ich ganz im Sand verschwinden.
«Deine Mama ist nie mit dir ans Meer gefahren?», sagt Raymond ganz erstaunt.«Nicht mal für einen Tagesausflug?»
«Nein, sie hat immer gesagt, das wäre zu teuer und Ferien wären nur was für die Reichen, und wegen ihrem kaputten Bein konnte sie nicht fahren, und sie hat sich gefürchtet wegen dem kleinen Jungen, der in eine Welle geraten ist, in der es so ähnlich wie in der Waschmaschine war.»
«Welcher Junge war das, mein Junge?»
«Weiß ich nicht.»
«Weißt du, Pflaume, ich bin nicht reich, aber ich kann euch alle drei in den Sommerferien ans Meer mitnehmen, wenn ihr wollt.»
Ich sage nichts.
Ich schaue das dicke Schiff an, das am anderen Ende vom Meer verschwindet.
«Im Ernst?», fragt mein Engel.
«Im Ernst.»
«Meine Tante erlaubt das sicher nicht», sagt Camille trotzig.
«Ich werde es mit dem Richter besprechen. Mach dir keine Sorgen. Pflaume, du hast noch gar nichts gesagt.»
«Ich schäme mich», sage ich.
«Warum?», fragt Raymond.
«Was sagt er?», ruft Antoinette.
«Er schämt sich!», brüllt Victor.
«Warum?»
«Antoinette!», ruft Raymond.«Lass den Jungen antworten.»
«Bitte sehr, wenn ich störe, muss man mir das nur sagen.»Und sie stülpt sich ihr Papierschiffchen über die Augen.
«Komm, mein Kleiner, sag mir, warum du dich schämst.»
«Weil ich es euch vorher nicht sagen wollte. Ich hatte Angst, dass ihr euch über mich lustig macht.»
«So etwas würde ich nie zulassen, mein Junge.»
«Ich auch nicht», sagt Camille.
«Für mich bist du wie ein Bruder, Pflaume», sagt Victor.«Und wenn sich jemand über dich lustig machen wollte, würde ich ihm die Fresse polieren.»Und mit seinen kleinen Fäusten poliert er der guten Meeresluft die Fresse.
«Gut, dann fahre ich gerne mit an das warme Meer», sage ich.
«Hurra!», ruft Victor.
Und da kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Es ist Pause. Camille und ich, wir sitzen im Gras und sind ganz aus dem Häuschen.
Die Katze ist weg. Wir haben überall nach ihr gesucht und sie nicht gefunden.
Camille sagt:«Wir haben sie allein gelassen, und sie hat sich neue Spielkameraden gesucht.»
Und vor allem müssen wir die ganze Zeit an den Gendarmen denken und an das, was er uns am Meer gesagt
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