Autobiografie einer Pflaume - Roman
aufräumen.
• Jeden Morgen das eigene Bett machen.
• Vor dem Einschlafen zum lieben Gott beten.
• Sich nicht mit Süßigkeiten und Schokolade voll stopfen.
• Nicht aus Raymonds Brieftasche Geld stehlen.
• Nicht lügen.
• Sachen, die man zerbrochen hat, nicht unten im Mülleimer verstecken.
• Nicht tagelang dieselbe Unterhose anziehen.
• Die Hausaufgaben ordentlich machen (Rosy kann es nicht mehr kontrollieren).
• Sich nicht über die Erwachsenen lustig machen.
• Sich in der Pause und auch sonst nicht prügeln.
• Nicht unter Leitern vorbeigehen.
• Nicht mit Messern und Scheren spielen.
• Sich nicht im Weihwasserbecken die Hände waschen.
• Sich nicht von Fremden ansprechen lassen.
• Und vor allem nicht zu ihnen ins Auto steigen.
• Nicht den Rest aus dem Glas der Erwachsenen trinken.
• Nicht mit Feuerzeug und Streichhölzern spielen.
• Keine Zigaretten rauchen.
• Im Auto den Sicherheitsgurt anlegen.
• Nicht dem Fahrer im Auto von hinten die Augen zuhalten.
• Nicht aufsässig werden, wenn man etwas nicht bekommt.
• Keine streunenden Katzen und Hunde nach Hause mitbringen.
• Keine Tauben anfassen.
• Lächeln, wenn man fotografiert wird.
Als wüssten wir Kinder das nicht alles. Rosy hat es sogar aufgeschrieben, und wir sollen den Zettel immer dabeihaben und oft lesen. Ich habe den Zettel Simon gezeigt, und er hat«Schwachsinn»gesagt.
Simon und die anderen Kinder schauen Camille und mich ein bisschen komisch an, ganz anders als Raymond.
Rosy sagt, ich hätte zu viel Phantasie, aber ich habe Augen und Ohren, nicht zu viel Phantasie.
Sobald Camille und ich auftauchen, unterbrechen die anderen ihr Gespräch. Als würden wir stören oder wollten spionieren.
«Da kann man nichts machen, Pflaume», hat Simon mir heute Morgen erklärt.«Wir freuen uns für euch, aber gleichzeitig ist es für unsere Gefühle ein bisschen wie in der Achterbahn, weil uns etwas gezeigt wird, was wir nicht haben können. Da sind wir mit unseren armseligen Träumen, die in jeder Streichholzschachtel Platz hätten, und müssen die Zähne zusammenbei ßen und Lippen lesen, um eine Sprache für uns zu erfinden, und wir kleben zusammen wie Pech und Schwefel, und wenn ihr jetzt geht, ist das wie mit der Kugel beim Kegeln: Alles fällt um. Und im Augenblick ist es, als wären wir gerade umgefallen und würden versuchen, uns aufzurichten. Ahmed macht wieder ins Bett. Alice lässt sich wieder die Haare ins Gesicht hängen. Béatrice isst nichts außer ihrem Daumen und ihren Nasenpopeln. Die Brüder Chafouin werfen sich bei ihrem bescheuerten Spiel Wörter an den Kopf wie ‹Hospitalismus› oder ‹Deprivation›. Und Boris hat sich zum ersten Mal wehgetan, als er sich eine Nadel in den Finger gestochen hat, und er hat nicht mehr zu weinen aufgehört. Na ja, kein Wunder, zehn Jahre Kummer kann man nicht von einem Augenblick auf den nächsten abschalten.»
Und ich schaue die weißen Tischtücher an und das grüne Gras und den blauen Himmel, und es macht mich alles so traurig, als hätte ich nicht das Recht, diese schönen Dinge anzusehen.
Die Kinder von Fontaines und aus der Schule sind alle an den Kirmesständen. Sie fischen mit einem Besenstiel Plastikenten
und werfen Bälle in kleine Körbe und Pfeile auf eine Zielscheibe und gewinnen riesengroße Stofftiere, auch wenn die Plastikente immer noch im trüben Wasser dümpelt, der Ball den Korb verfehlt oder der Pfeil überall landet, außer in der Zielscheibe.
Und mir ist zumute, als wäre ich gar nicht da.
Ich habe keine Lust zu lächeln, und ich empfinde keine Freude, die ich zeigen könnte.
Camilles Augen sehen aus wie an den Tagen, an denen es ihr schlecht geht. Keiner von uns beiden ist an einen der Kirmesstände gegangen.
Und niemand ist uns holen gekommen.
Raymond unterhält sich mit dem Richter. Victor spielt mit den anderen Kindern. Die Heimwehstreuer interessieren sich nur für das, was auf ihren Papptellern und in ihren Plastikbechern ist. Die Familien der Kinder aus der Schule lagern auf dem grünen Gras. Madame Colette lacht mit Monsieur Paul, und ihr Lachen tut mir richtig weh.
«Aber, Kinder, was ist denn das? Was macht ihr denn für sauertöpfische Mienen? Ausgerechnet heute!»Madame Papineau legt uns die Hände auf die Schultern.
Ich schaue sie mit traurigen Augen an.«Heute ist kein Tag für uns, Frau Direktorin.»
«Frau Direktorin?»
«Geneviève.»
«Das gefällt mir schon besser. Erzählt es
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