Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
weißen Mähne. Sie betete nicht. Seit sie von der Heiligen Quelle zurück war, war sie nicht fähig gewesen, zu beten, aber die robuste Stärke der Stute gab ihr Trost.
Das Beltane-Fest war eher ein Leichenschmaus gewesen statt einer fröhlichen Feier, obwohl Prasutagos noch lebte. Die Stammesführer, wie erstarrt ob der Aussicht des möglichen nahen Todes ihres Königs, waren immerhin geneigt, sich mit allem, was er verlangte, einverstanden zu zeigen. Der Sommer bescherte dem Land reiche Gaben, aber mit jeder Stunde schwanden die Kräfte des Königs, bis seine geschwächten Lungen den Kampf um die Luft zum Atmen verloren.
Das Gesicht fest in Branwens raue Mähne gedrückt, sah Boudicca nicht, wie das Licht des Tages verglomm, spürte aber, dass es langsam kühler wurde. Da stampfte die Stute plötzlich auf, schüttelte kräftig den Kopf, und Boudicca hörte, wie jemand nach ihr rief.
»Mama.« Riganas Stimme klang zugeschnürt. »Brangenos sagt, du sollst kommen.«
Unwillkürlich befiel sie ein heftiger Schauder, doch als sie sich umdrehte, hatte sie sich gefasst und ihre Augen getrocknet. Sie nahm ihre Tochter an der Hand. Als sie sich dem Rundhaus näherten, vernahm sie Harfenklänge, süß wie die Erinnerung. Die Heilmittel des Druiden hatten Prasutagos nicht mehr geholfen, die Musik aber schien seine Schmerzen zu lindern. Kurz vor dem Eingang zu dem Raum, in dem Prasutagos lag, hielt sie abrupt inne, wappnete sich gegen den Geruch von Krankheit.
Rigana setzte sich neben ihre Schwester auf die andere Seite des Bettes. Auch Bituitos, Eoc sowie weitere Bedienstete waren da. Aber Boudicca sah sie nicht. Während ihrer kurzen Abwesenheit war Prasutagos’ Gesicht noch mehr eingefallen, das Fleisch hing welk über seinen Knochen. Jeder Atemzug war ein Kampf. War er bewusstlos oder nur derart konzentriert, am Leben zu bleiben, dass er nichts um sich herum wahrnahm? Tränen traten ihr in die Augen, verschleierten ihren Blick. Doch sie fühlte nicht den eigenen Schmerz, nur tiefes Mitleid.
Was Brangenos gesagt hatte, war plötzlich Wirklichkeit geworden. Prasutagos konnte diese Krankheit nicht überleben. Jede Stunde zögerte sein Leiden nur unnötig hinaus. Ob Prasutagos ebenso mitgefühlt hatte, als er sie leiden gesehen hatte bei der Geburt seines Kindes? Jetzt musste er selbst eine Geburt durchstehen, musste den Geist entbinden, und bei dieser Geburt fiel ihr die Aufgabe der Geburtshelferin zu.
Ich kann das nicht, dachte sie.
Ich muss …
Sie trat einen Schritt vor, und ihr Mann schlug die Augen auf. Seine Lippen bewegten sich, formten ihren Namen.
»Prasutagos«, sagte sie und sprach zu ihm so, wie er vor langer Zeit einmal zu ihr gesprochen hatte. »Prasutagos, ich bin da …« Sie kniete sich neben das Bett, nahm seine Hand, gab ihm Kraft ein durch die ineinandergeschlungenen Finger, und sein Todeskampf schien sich zu lindern.
Noch einmal bewegte er die Lippen, sprach fast tonlos: »Wache über mein Volk, Boudicca. Behüte meine Mädchen …«
»Aber ja, mein Lieber«, antwortete sie beherrscht. »Das werde ich.«
Angestrengt holte er Luft, sein Körper kämpfte noch. Sie beugte sich vor. Ihre Lippen berührten seine Stirn.
»Du hast alles getan, was du konntest«, flüsterte sie. »Keine Frau hat je einen besseren Mann gehabt. Jetzt ist es zu Ende, mein Geliebter. Geh deinen Weg – geh frei …«
Als sie sich aufrichtete, verzogen sich seine Lippen zu dem vertrauten, wonnigen Lächeln. Und dieses Lächeln waren seine letzten Worte.
Boudicca wartete, erinnerte sich plötzlich daran, wie es gewesen war, als sie mit dem Schiff nach Avalon fuhr, wie sie das Gefühl gehabt hatte, dass nicht das Schiff, sondern das Ufer sich fortbewegte. Erst sehr viel später drang in ihr Bewusstsein, dass sein schweres Atmen aufgehört hatte. Seine Finger, immer noch mit ihren verschlungen, wurden langsam kalt. Sie löste sie und legte ihm sanft über Kreuz die Hände auf die Brust.
Dann stand sie auf. Die Worte der anderen hörte sie nicht. Prasutagos war still und stumm. Wie oft in all den Jahren hatte sie sich über sein Schweigen geärgert? Doch alles Schweigen zuvor war nicht so schlimm gewesen wie dieses. Da konnte sie fluchen und flehen, wie sie wollte – nie wieder würde sie ihn hören.
Boudicca drehte sich um, schob alle weg, die versuchten, ihr in dieser schweren Stunde zur Seite zu stehen. Sie lief geradewegs hinunter zum Pferdepferch, wo die Weiße Stute wartete. Sattel und Zaumzeug brauchte sie
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